Interpretation
Die folgenden Dokumente dienen als Inspiration für verschiedene Interpretationsansätze. Koeppens Roman muss im Zusammenhang seiner Zeit gelesen werden und weist auf Themen hin, die in der Nachkriegszeit präsent waren, etwa die Besatzung durch die Amerikaner oder die tiefe emotionale Krise in der die Nachkriegsgesellschaft nach dem Krieg und dem Trauma der Nazizeit steckte.
Außerdem zeigen wir die literarischen Vorbilder auf, etwa "Ulysses" von James Joyce oder Döblins "Alexanderplatz".
Einführung
1951 erscheint der Roman „Tauben im Gras“, ein Teil von Koeppens Romantrilogie. Der Roman schildert achtzehn Stunden in einer Großstadt, wahrscheinlich das von den Amerikanern besetzte München. Der Tag lässt sich auf den 20. Februar 1951 datieren („André Gide gestern verschieden“, S.103). Der Roman spiegelt die bedrohliche Lage Deutschlands und die Angst vor einem neuen Krieg wider: „Spannung, Konflikt, man lebte im Spannungsfeld, östliche Welt, westliche Welt, man lebte an der Nahtstelle, vielleicht an der Bruchstelle, die Zeit war kostbar, sie war eine Atempause auf dem Schlachtfeld”(S.11). Glücklicherweise beruhigen sich im Frühjahr in Korea die Fronten, und im Mai 1951 zeigen sich die ersten Anzeichen einer Entspannung. Der befürchtete dritte Weltkrieg bleibt vorerst aus, aber die zerstörerischen Kräfte der Vergangenheit und die Fortexistenz des Faschismus gefährden die Zukunft. Koeppen beschreibt die destabilisierte Gegenwart als Ursache gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit und die Suche seiner Romanfiguren nach Halt und Orientierung.
Die Handlung besteht aus über 100 kleineren Handlungssequenzen, die polyperspektivisch konstruiert sind. Bis auf einige Ausnahmen sind die Szenen miteinander verknüpft, manchmal synchron, manchmal aufeinanderfolgend. Der Roman enthält die Darstellung eines Nachkriegspanoramas und eines Zeitgemäldes, die die verschiedenen Facetten der Gesellschaft und die Variationen des menschlichen Daseins abbilden. Der Schreibstil ist vom filmischen Erzählen geprägt, welches diese Vielfältigkeit angemessen zum Ausdruck bringt. Durch eine geschickte Anordnung werden viele Figuren in den Blick genommen. Zum Beispiel verfolgen farbige Besatzungssoldaten, die verarmte Tochter eines eines reichen Mannes eines reichein Mannes, ein gescheiterter Journalist, ein erfolgreicher Schauspieler, vaterlose Jugendliche, deutsche Mädchen und amerikanische Touristen ihre jeweiligen Interessen. Es scheint so, als irrten die Figuren meist planlos umher und als entstehe jede Begegnung zwischen ihnen zufällig. Ihre Wege kreuzen sich, aber sie bleiben einsam, auf der Flucht vor sich selbst, existenziell verunsichert, nicht in der Lage, sich an die neue Welt anzupassen und ihre Lebensangst zu überwinden. Der Leser kann in dem Roman Figuren finden, die sein Mitgefühl hervorrufen, wie zum Beispiel Washington, Emmi und Josef, und auch Personen, die ein Gefühl von Antipathie begründen, wie zum Beispiel Frau Behrend, die Tochter der Hausbesorgerin oder die Bräuhausgäste.
Viele der Romangestalten verbindet das leidvolle Erleben des Krieges und der NS-Zeit sowie das Bestreben, einen Platz und eine Rolle in einer führungslosen Gesellschaft mit zerfallenen Institutionen zu finden. Die Destabilisierung der Gesellschaft führt zu Werteverlust und sozialer Isolation. Anonymität, Vereinzelung, Entfremdung und Orientierungslosigkeit der Menschen kennzeichnen die Nachkriegsrealität und auch die Figuren in „Tauben im Gras“.
Wolfgang Koeppen knüpft literarisch an Motive und Verfahren der modernen Literatur, von Baudelaire bis Joyce, an. Der Roman lässt sich in der Tradition der literarischen Moderne einordnen. Neben Sprachreduktion und parataktischer Verknappung sind intertextuelle Bezüge, Assoziationen und zahlreiche Metaphern zu finden. Mithilfe der Montagetechnik, die der filmischen Schnitttechnik sehr ähnlich ist, und der sprachlichen und metaphorischen Verkettung wird im Roman eine übergreifende Einheit konstituiert. Neben der Einheit der Zeit und wiederkehrenden Schauplätzen in der Großstadtkulisse sind auf sprachlicher Ebene sich wiederholende Elemente zu finden, zum Beispiel Motive, Symbole, Mythen, Schlagzeilen und literarische Verweise.
Drei zentrale Themen des Romans werden nachfolgend charakterisiert und interpretiert: die Sprachlosigkeit und die gestörte Kommunikation, die Komik und das Groteske und das Verhältnis von Amerikanern zu Deutschland und umgekehrt.
Sprachlosigkeit und gestörte Kommunikation
Charakteristisch für den Roman ist das Scheitern der Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Romanfiguren. Sie gehen aneinander vorbei, ohne reden zu können, obwohl sie den Wunsch haben, miteinander zu sprechen. Andere versuchen es, verpassen sich oder scheitern dabei. Beziehungen zwischen den Menschen können manchmal wegen einer Ehekrise oder wegen der sozialen oder gesellschaftlichen Umstände nicht etabliert werden. In anderen Fällen sind es Schüchternheit, Mangel an Empathie oder Vorurteile, die die verschiedenen Personen davon abhalten, miteinander zu reden und sich zu verstehen. Diese Problematik betrifft fast alle Figuren des Werkes. Anhand verschiedener Situationen, die die einzelnen Figuren erleben, als Ausgangspunkt werden die Sprachlosigkeit und die gestörte Kommunikation exemplarisch beleuchtet.
Die schwangere Carla und ihre Mutter sind ein gutes Beispiel für ein misslungenes Treffen. Auf dem Weg zur Klinik, in der Carla eine Abtreibung vornehmen lassen will, zweifelt sie. Sie überlegt, ob es Liebe, Verzweiflung oder Gewohnheit ist, die sie mit Washington verbindet. Sie möchte mit ihrer Mutter über ihre Situation und ihre Schwangerschaft sprechen, bevor sie in die Klinik geht. Sie möchte einen guten Rat von ihr.
Frau Behrend sitzt im Domcafé, wo sie sich nachmittags häufig mit ihren Gesinnungsgenossen aufhält. Sie sieht ihre Tochter Carla im Schein einer roten Ampel. Frau Behrend hält sie für eine Verlorene, die mit einem „Neger“ zusammenwohnt. Frau Behrend denkt über die „Schande“ ihrer Tochter nach, sich mit einem „Neger“ zu verbinden und sich von ihm schwängern zu lassen, aber auch über das Verbrechen, das Kind töten zu wollen. Sie wünscht ihre Tochter nach Amerika. Es ist ihr gleichgültig, wie Carla sich entscheidet. Der Gedanke, in der Öffentlichkeit von ihren Bekannten mit Carla gesehen zu werden, beunruhigt Frau Behrend. Sie hat ihrer Tochter nichts mehr zu sagen. Sie will Carla, ihr Kind oder ihren Mann nicht in diesem, „ihrem“ Café sehen. Frau Behrend möchte in Frieden gelassen werden.
Carla ahnt die Gedanken ihrer Mutter. Der Wunsch, mit der Mutter zu sprechen, erstirbt, als sie ihr kaltes, fischähnliches Gesicht sieht. Frau Behrend erlebt ihre Tochter wie einen „Domturm“ vor sich stehend (S.120). Carla und ihre Mutter sitzen schweigend im Kaffeehaus. Sie trennen sich förmlich vor dem Café, ohne sich ausgesprochen zu haben. „Carla drehte sich um, blickte noch einmal nach ihrer Mutter aus, doch Frau Behrend hatte feige mit schnellen Schritten, das Unheil fliehenden Schritten, und, ohne sich noch einmal nach der Tochter umzusehen, den Domplatz schon verlassen“(S.134).
Frau Behrends egoistische, ausländerfeindliche und rassistische Grundeinstellung hat zur Folge, dass sie ihre Tochter, die sich in einer schwierigen Situation befindet und ihrer Unterstützung bedarf, nicht versteht, ihr nicht beisteht und ihr nicht hilft. Sie zeigt ihrer Tochter emotionale Kälte, Entfremdung und Kommunikationsunfähigkeit und verstößt sie. Da sich durch Carlas Situation negative Auswirkungen auf ihr Leben und ihren gesellschaftlichen Status ergeben könnten, ist Frau Behrend sich selbst wichtiger als ihre Tochter.
Vorurteile und vorgefasste Einstellungen hindern eine echte Kommunikation und führen zu gescheiterten Versuchen, miteinander zu sprechen. Das betrifft Richard Kirsch. Frau Behrend ist Richards Tante, eine ferne Verwandte, die er nicht kennt und die sein Vater in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit Hilfspaketen versorgt hat. Er soll sie auf Wunsch seines Vaters besuchen. Seine deutsche Verwandtschaft ist ihm eher gleichgültig. Auf der Suche nach Frau Behrend spricht er mit der jungen Tochter der Hausbesorgerin. Sie behandelt ihn kühl und herablassend. Anmaßend blickt sie auf ihn von oben herab. Er ist nicht der Erfolgsmensch, auf den sie wartet. Er ist für sie nur ein einfacher Amerikaner ohne Auto und nicht der Märchenprinz, den das Horoskop ihr im „Abendecho“ in Aussicht gestellt hatte. Sie zählt die Amerikaner zu den geringeren Leuten, die nicht an die Hierarchie glauben (S.137). Sie schickt ihn zur Lebensmittelhändlerin, bei der er Frau Behrend vielleicht treffen könnte. Als Richard sich später mit der Lebensmittelhändlerin unterhält, bedrängt diese Richard und klagt über die „Neger, die man ihnen geschickt habe“. Es kommt zu verschiedenen Missverständnissen. Richard nimmt an, Frau Behrend habe ein Kind mit einem „Neger“. Richard selbst hat nichts gegen dunkelhäutige Menschen. Sie fliegen in den gleichen Flugzeugen und eigentlich sind sie ihm gleichgültig. Er fühlt sich unwohl in dem engen Laden. Er lässt Frau Behrend ausrichten, er sei am Abend im Bräuhaus zu finden (S.141).
Frau Behrend erfährt von der Händlerin, dass ein Amerikaner nach ihr gesucht habe. Frau Behrend ärgert sich darüber, dass sie Richard verpasst hat, und gibt Carla die Schuld dafür. Sie fürchtet, die Händlerin habe über Carlas Situation gesprochen. Die Händlerin streitet dies ab, was Frau Behrend ihr aber nicht abnimmt. Auch glaubt sie ihr nicht, dass Richard sie ins Bräuhaus bestellt habe (S.150). Trotzdem sucht Frau Behrend am Abend nach Richard im Bräuhaus. Als Richard merkt, dass er von der „Tante mit der Negertochter“ (S.210) beobachtet wird, küsst er das Fräulein, das bei ihm sitzt, um nicht erkannt zu werden. Frau Behrend beobachtet sie und denkt, dass Richard sich nie so schlecht benehmen würde. „Er ist es nicht ... er würde sich nie so benehmen, auch wenn er in Amerika groß geworden ist, würde er sich nie so benehmen“ (S.210). Sie spricht ihn daher auch nicht an und geht weiter, um ein Bier zu trinken. Ihre vorgefassten Einstellungen und Richards ablehnende Haltung haben das Treffen der beiden verhindert.
Philipp gerät mehrfach in Verhältnisse, in denen die Kommunikation scheitert. Seine Ehe mit Emilia scheitert langsam. Emilia und Philipp haben hohe Erwartungen aneinander und zeigen eine gegenseitige Unzufriedenheit. Sie erkennen ihre Probleme, aber sie können sie nicht besprechen, nicht lösen oder überwinden. Auch der Psychologe kann nicht helfen, da sie ihm nicht glauben. Sie gehen sich aus dem Weg. Sie kommen beide nicht mit der Zeit, in der sie leben, zurecht und entfremden sich und vereinsamen.
Mit den anderen Personen, Kay oder Edwin zum Beispiel, die Philipp trifft, geht es nicht besser.
Philipps Versuch, die Lehrerin Kay zu verführen, scheitert an den negativen Umständen, die auch neuer Romantik keine Chance lassen. Statt Kay in eine romantische Wohnung zu bringen, nimmt Philipp sie mit in sein schäbiges und geschmacklos eingerichtetes Hotelzimmer. Kay kann nicht glauben, dass dies das Heim eines deutschen Dichters sein soll. Philipp weiß nichts mit ihr anzufangen, sein Herz bleibt kalt. Am Ende sind beide desillusioniert. Kay schenkt Philipp, den sie für arm hält, den Schmuck, den sie von Emilia bekommen hat.
Philipp trifft Edwin zufällig in dem Hotelhof. Beide Schriftsteller sind auf der Flucht vor Messalina. Edwin hält Philipp für sein Spiegelbild und seinen Doppelgänger. Obwohl er ihn nicht kennt, erkennt er in ihm den Schriftsteller und eine gewisse Verwandtschaft. Philipp kennt Edwin von seinen Büchern. Er bewundert ihn, und er hatte früher ein Bild von ihm an der Wand über seinem Schreibtisch hängen. Philipp hat den Wunsch, mit Edwin...