Rezension

Ulrich Plenzdorf wird 1972 aufgrund seiner Schöpfung der Figur Edgar Wibeau, des Publikumslieblings und der Hauptfigur seines Romans „Die neuen Leiden des jungen W.“, auf sensationelle Art in Ost und West berühmt. Der Montageroman ist eines der bekannteren Exemplare der DDR-Lektüre und wird heute noch gern im Unterricht verwendet. Das Stück wird auch immer noch gerne auf vielen deutschen Theaterbühnen aufgeführt. 

Oberflächlich betrachtet, fällt vor allem die Ähnlichkeit der Geschichte zu Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ins Auge. Der Protagonist zitiert fleißig Goethes tragischen Helden und schafft damit einen witzigen Kontrast zu der frechen Jugendsprache, die der junge Autor in seinem Roman benutzt. Doch leider hat Goethes mitreißende und wilde Dreiecksgeschichte um Lotte, Werther und Albert in der DDR-Version ihren Biss verloren. Glücklicherweise ist die Liebesgeschichte nicht das Wichtigste an Plenzdorfs Roman, der vor allem als Gesellschaftskritik zu lesen ist. Der Wille zur Selbstbestimmung eines jungen Mannes, der in einer Gesellschaft der Bevormundung aufwächst, steht vor allem im Fokus.

Der Freiheitsdrang ist ein ganz großes Thema bei Plenzdorf und es wird auf verschiedenste Weise dargestellt: Sei es durch den einprägsamen, symbolischen „Blue-Jeans-Song“, den Edgar selbst geschrieben und auf DDR-Bühnen gesungen hat (man stelle sich den damaligen Schockeffekt vor!), oder durch die tiefsinnigen Monologe des Protagonisten. Der Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ ist ein Plädoyer für die Entscheidungsfreiheit des Menschen. Die unterschwellige Kritik an der DDR kommt ohne Schwarzweißmalerei aus: Edgars Aussagen sind selten direkt politisch, und wenn, dann sind sie nicht antisozialistisch.

Durch die Zensur wurden die drastischeren Aspekte gemildert: Der Antiheld kommt am Ende der Geschichte durch einen Unfall ums Leben, statt durch den ursprünglich vorgesehenen Selbstmord. Schade auch, dass Edgars letzte Einsicht wundersamer Weise völlig konformistisch ist, dass es sein größter Fehler war, immer der Sieger sein zu wollen. Solche offensichtlichen Beschneidungen der künstlerischen Freiheit tragen dazu bei, dass der Roman repräsentativ für die Literatur der DDR in den 1970er Jahren ist. Aufgrund seiner auffallenden Intertextualität wird das Verständnis des Werkes ganz bestimmt dann erleichtert, wenn der Leser zu Beginn der Lektüre bereits Kenntnisse zu Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ besitzt.