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Todesfuge

Paul Celans (1920-1970) düsteres Gedicht Die Todesfuge lässt bereits beim ersten Lesen erahnen, dass sich die Handlung in einem Ghetto oder Vernichtungslager zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) ereignet. Das Personalpronomen „Wir“ umschreibt dabei die Insassen und Opfer, die der Zwangsarbeit und der immerwährenden Allgegenwart des Todes ausgesetzt sind. Das Personalpronomen „Er“ steht für einen anonymen, grausamen und brutalen Täter – einen deutschen Nationalsozialisten. „Die Todesfuge“ ist das berühmteste Gedicht über die Shoah und ist in Deutschland zum Inbegriff der Holocaust-Literatur geworden.

Der Leser erkennt sofort auf den ersten Blick, dass die Verse und Strophen interpretiert werden müssen, damit die wahre Aussage des Gedichts herauskristallisiert werden kann. Zahlreiche Interpretationen haben versucht, die sprachlichen Elemente des anspielungsreichen Gedichts herauszuarbeiten und zu deuten, die unter anderen auf das erste Buch Mose, Johann Sebastian Bach, Richard Wagner, Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil, Immanuel Weissglas oder auf das Hohelied verweisen. Die poetischen Metaphern machen die Darstellung der ungeheuerlichen und bestialischen Ereignisse im Vernichtungslager möglich, tragen jedoch nicht dazu bei, diese abzumildern oder zu beschönigen.

Die Form des Gedichts ist an das musikalische Konzept einer Fuge angelehnt und verweist durch ihre Komposition auf die makabre Praxis der SS, einige Häftlinge Tanzmusik spielen zu lassen, während andere Inhaftierte Gräber ausschaufelten oder in die Gaskammern getrieben wurden. Bei den Erschießungen erklang ebenfalls oft Tanzmusik aus Lautsprechern, um die Gewehrsalven zu übertönen.

Foto des Lagerorchesters im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska,gedruckt in der Izvestia vom 23. Dezember 1944, Public Domain

Das Gedicht ist eng mit dem Tod der Eltern von Paul Celan in Konzentrationslagern verknüpft. Der Verlust insbesondere der Mutter sowie die traumatischen Erlebnisse während des Krieges haben den Autor sein Leben lang geprägt.

Auszug aus dem Text:

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Insgesamt enthält Die Todesfuge zahlreiche Querverweise auf das Hohelied. Die Motive des Namens, Haares (4,1; 5,5; 7,6) und Tanzes (7, 1) sowie der Milch (4, 11; 5, 1), des Goldes (1,11; 5,11, 14) und des Trinkens sind biblisch verankert. Somit kann man das Gedicht auch als eine moderne Neuinterpretation des biblischen Textes lesen. Dabei wandeln sich die biblischen Motive und fügen sich in den Themenkomplex des Holocausts ein: Die Milch wird schwarz, das Haar aschen, der Reigentanz zum Totentanz, das Gold, welches im Hohelied noch ein Attribut Salomos und Sulamiths war, wird in der Todesfuge Margarete zugeschrieben. Die Abwandlung der Sprachbilder ist eng mit dem Gattungswechsel von einem Liebeslied hin zu einer Totenklage verbunden.

In dieser Form der Gegenüberstellung erinnern Margarete und Sulamith an die lange christliche Tradition in den darstellenden Künsten und der Bildhauerei: Das Nebeneinander der blinden Synagoga und triumphierenden Ecclesia, die häufig auch durch die Maria, die Mutter Gottes, verkörpert wird. Bereits im Mittelalter diente diese Darstellung dazu, das Verhältnis von Christentum und Judentum abzubilden. Das Überlegenheitsgefühl der christlichen Kirche gegenüber den Juden in der damaligen Zeit wird auf diese Weise besonders deutlich. Auf diese antisemitische Haltung, die von den Nazis weiter propagiert wurde, spielt Paul Celan mit den beiden Frauennamen an. 

Dualität

Das Stilmittel der Gegenüberstellung erstreckt sich in Paul Celans Todesfuge bis hin zu der Diskrepanz von Form und Inhalt – die grausamen Geschehnisse werden hier in einer durch und durch poetischen und rhythmisch fließenden Sprache geschildert. Die poetische Sprache des Gedichts beschönigt in keiner Weise die historischen Ereignisse. In jedem Vers schwingt das Grauen mit, und zwar vielleicht gerade deshalb weil es nicht beschrieben, nicht geschildert, nicht ausgesprochen wird. Der Tod scheint dennoch allgegenwärtig zu sein, der Schwebezustand zwischen Leben und Sterben, die Sehnsucht nach dem erlösenden Ende, ist ein zentrales Motiv einer jeden Zeile. 

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