Zeitgestaltung

Zwei Begriffe werden dann berücksichtigt, wenn die Zeitgestaltung eines Textes gewertet wird: die Erzählzeit und die erzählte Zeit.

  • Erzählzeit: Die Erzählzeit ist diejenige Zeit, die man zum Erzählen oder Lesen des Werks benötigt.
  • Erzählte Zeit: Die erzählte Zeit ist derjenige Zeitraum, über den sich die erzählte Geschichte erstreckt.

Die Zeitgestaltung einer Erzählung kann anhand des Vergleiches zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit beschrieben werden. Dazu stehen drei Möglichkeiten zur Verfügung:

  • Zeitdeckung: Die Zeitdeckung beschreibt die Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit (Erzählzeit = erzählte Zeit). Bei der Anwendung von direkter Rede wird zeitdeckend erzählt.

Die Zeit, die der Verfasser benötigt, um eine Szene oder die ganze Geschichte zu erzählen,  entspricht in etwa der Zeit, die der Leser zum Vorlesen braucht. 

Beispiel Fräulein Else

Die zeitliche Erstreckung der dargestellten Ereignisse in Arthur Schnitzlers Novelle beschränkt sich auf wenige Abendstunden (von ca. 19 Uhr bis Mitternacht). Damit umfasst die erzählte Zeit ungefähr fünf Stunden. Da für die Lektüre des Textes eine ähnlich lange Zeitspanne benötigt wird, entsprechen Erzählzeit und erzählte Zeit weitgehend einander, wodurch in diesem Fall ein zeitdeckendes Erzählen vorliegt.

  • Zeitraffung: Die Zeitraffung kommt dann zustande, wenn die Erzählzeit kürzer ist als die erzählte Zeit (Erzählzeit < erzählte Zeit).

Am häufigsten wird dann zeitraffend erzählt, wenn eine relativ kurze Erzählung von einer Handlung berichtet, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Sprünge in der Geschichte oder Zusammenfassungen verursachen in der Regel zeitraffendes Erzählen.

  • Zeitdehnung: Die Zeitdehnung entsteht dann, wenn die Erzählzeit größer als die erzählte Zeit ist (Erzählzeit > erzählte Zeit).

Das Erzählen langer, sehr detaillierter Beschreibungen von Handlungsabläufen oder Reflexionen verursacht häufig zeitdehnendes Erzählen. 

 

Bitte Folgendes beachten: Literarische Texte werden häufig sukzessive mit diesen drei Elementen: Zeitdeckung, Zeitraffung, und Zeitdehnung, gestaltet.

Beispiel Halbschatten:

Die Rahmenhandlung von Uwe Timms Roman umfasst den Besuch eines Friedhofs und erstreckt sich in etwa über eine so lange Zeit, wie ein Leser braucht, um den Roman zu lesen (circa 4 Stunden). Daher sind in diesem Fall die Erzählzeit und die erzählte Zeit der Rahmenhandlung in etwa deckungsgleich.

Die Binnenhandlung, also die Erinnerungen und Berichte der Toten, umfasst den Zeitraum von der Eröffnung des Invalidenhauses im Jahr 1748 bis hin zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989. Auf der zweiten Erzählebene sind damit die Erzählzeit und die erzählte Zeit deshalb nicht deckungsgleich, da die Berichte der Toten die Ereignisse gerafft in Form von Zusammenfassungen wiedergeben.

Bei der Wiedergabe direkter Rede wird zeitdeckend erzählt: „Nein, sagt Miller, es war genau so: Sie kam wie ein lärmender Engel vom Himmel. Von ihr ging eine erstaunliche Anziehung aus und gleichermaßen etwas Unbeschwertes, Leichtes. Das war der erste, überwältigende Eindruck, als sie hier einschwebte. Nicht Frau, nicht Mann, sie hatte etwas von einem mittelalterlichen Engel“

Beispiel Buddenbrooks:

In Thomas Manns berühmten Roman, der sich in den Jahren zwischen 1835 und 1877 abspielt, sind zeitdeckende, zeitdehnende und zeitraffende Passagen vorhanden. Die Beschleunigung und Verlangsamung der Zeit stehen dabei oftmals direkt nebeneinander. Der Roman beginnt beispielsweise mit einer fast fünfzig Seiten starken Beschreibung der Einweihungsfeier des Hauses in der Mengstraße. Der zweite Abschnitt ist fast genauso lang, stellt aber eine Zeitperiode von fast vier Jahren dar (April 1838–1842).

Zeitdeckendes und zeitdehnendes Erzählen finden sich vorwiegend in dialogisch geprägten, szenischen Darstellungen wieder, etwa im ersten Teil oder beim Streit zwischen Thomas und Christian im neunten Teil (S. 572ff.). Darüber hinaus finden sich auch solche Passagen, in denen die Zeit gleichsam stillsteht. Das ist dann der Fall, wenn sich die Figuren ihren Reflexionen hingeben und das Geschehen durch die erlebte Rede dargestellt wird. Auf die Spitze getrieben ist diese Art des zeitdeckenden Erzählens während der Schopenhauer-Lektüre von Thomas (S. 654ff.) zu finden.

Zeitraffungen werden auf verschiedene Art und Weise auf den Text angewendet. So gibt es Zeitsprünge, die bewusste Auslassungen in der Handlung markieren und in einen neuen Lebensabschnitt eines Protagonisten überführen, wie etwa hier: „Toms und Christians Jugendzeit…es ist nichts Bedeutendes davon zu melden“ (S. 66).

Zeitraffungen in der Form von nur sehr knappen Erwähnungen werden auch im historischen Kontext konsequent umgesetzt. Bei den Passagen, in denen der Leser durch Briefe über die Handlung informiert wird, handelt es sich ebenfalls um zeitlich geraffte Erzählpassagen.