Die erlebte Rede
Die erlebte Rede ist eine von fünf Formen der Figurenrede. Sie stellt eine Form der Rede- und Gedankenwiedergabe dar, die hauptsächlich in literarischen Texten verwendet wird.
Die erlebte Rede dient der Wiedergabe von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Der Erzähler schlüpft in eine Figur hinein, um deren innere Vorgänge eindrücklich wiederzugeben. Sie kommt üblicherweise nur in bestimmten Passagen der Erzählung zum Einsatz.
Die erlebte Rede wurde vor allem im 19. Jahrhundert von Autoren wie Gustave Flaubert und Jane Austen entwickelt. Diese Erzählweise findet sich sehr häufig im modernen Roman, wie zum Beispiel in den Werken von Franz Kafka, Thomas Mann und Robert Musil.
Die erlebte Rede steht in der dritten Person und im Tempus des Erzählten, meist im Präteritum. Sie darf nicht mit dem Inneren Monolog verwechselt werden, der in der ersten Person Singular und im Präsens steht. Im Gegensatz zum Bewusstseinsstrom werden in der erlebten Rede die üblichen Regeln der Syntax beibehalten.
Direkte Rede: Er sagte: „Gestern bin ich doch hier gewesen!“
Indirekte Rede: Er sagte, dass er am vorigen Tag dort gewesen sei.
Erlebte Rede: Gestern war er doch hier gewesen!
Die erlebte Rede ist in einem Text deshalb nicht einfach zu erkennen, weil sie im Gegensatz zur direkten Rede nicht grafisch durch Anführungszeichen markiert wird, und nur gelegentlich wie die indirekte Rede durch eine Redeankündigung und eine Subjunktion („dass“, „ob“ …) eingeleitet wird.
Die erlebte Rede ist durch die folgenden Indizien im Text erkennbar:
- Anhand von Modalverben, wie „sollen“, „dürfen“ oder „müssen“, welche die subjektive Vermutung oder Hoffnung einer Figur ausdrücken.
- Anhand eines Ausrufs oder einer Frage.
- Anhand der Anwendung von Partikeln, die einen umgangssprachlichen, emphatischen oder affektiven Charakter haben, wie „nun“, „ja“, „doch“, „wohl“, „eben“, „gerade“, „oh“, „leider“, „ach“, „gewiss“, etc.
- Anhand von Bekräftigungen, wie „wahrhaftig“ und „tatsächlich“, von Flüchen und umgangssprachlichen bzw. mundartlichen Wendungen, wie „halt“, „eh“.
- Anhand von Redewendungen, die Zweifel oder Vermutung signalisieren, wie „vielleicht“ oder „vermutlich“.
Die erlebte Rede lässt sich aber nicht automatisch durch das Auftreten dieser Indizien feststellen. Diese weisen nur darauf hin, dass die Passage als erlebte Rede zu verstehen sein kann. Oft ist die erlebte Rede in den Erzählerbericht eingebettet. Üblicherweise wird sie aber nur in bestimmten Passagen eingesetzt.
Beispiel: „Frau Stuth aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit [,] in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstag bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knieen und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moiré antique ...“ (Thomas Mann, Buddenbrooks).
Um die erlebte Rede eindeutig in einem Text identifizieren zu können, muss man in jedem Fall auf die Gesamtsituation Rücksicht nehmen. Sie kann entweder stark an den Erzähler geknüpft sein oder sich mehr an der Figurensicht orientieren. In der Erzählerstimme können auch häufig Spuren der Ausdrucksweise wiedererkannt werden, welche den Wortschatz oder den Sprachstil der Figur charakterisieren.
Beispiele für erlebte Rede sind im Zitat unterstrichen:
„Paris? Nach Paris! Der Schreck traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Das war der Zug für seinen Rückweg. Der falsche Zug! / Und jetzt? Von der nächsten Station zurück nach Oury? Unmöglich, dann mußte er dort eine Stunde warten, und dafür hatte er keine Zeit mehr. Die Notbremse schob sich in seinen Blick, das kleine Kästchen mit dem roten Griff, einfach ziehen und … – Nein, das war unmöglich. Er sah am Schaffner hinauf und wußte, daß er das nicht wagen würde.“ (Daniel Kehlmann, Unter der Sonne).
„[D]er Gondolier sprach zwischen den Zähnen mit sich selbst. Was war zu tun? Allein auf der Flut mit dem sonderbar unbotmäßigen, unheimlich entschlossenen Menschen, sah der Reisende kein Mittel, seinen Willen durchzusetzen. Wie weich er übrigens ruhen durfte, wenn er sich nicht empörte. Hatte er nicht gewünscht, dass die Fahrt lange, dass sie immer dauern möge? Es war das Klügste, den Dingen ihren Lauf zu lassen, und es war hauptsächlich höchst angenehm. Ein Bann der Trägheit schien auszugehen von seinem Sitz, von diesem niedrigen, schwarzgepolsterten Armstuhl, so sanft gewiegt von den Ruderschlägen des eigenmächtigen Gondoliers in seinem Rücken“ (Thomas Mann, Der Tod in Venedig).
Die erlebte Rede bezeugt oft eine gewisse Zwiespältigkeit, Zerrissenheit oder die nervöse Unrast der literarischen Figur. Sowohl die Stimme des Erzählers als auch die Stimme der Figur scheinen in der erlebten Rede gegenwärtig zu sein. Wer spricht oder denkt, bleibt unklar. Der Leser wird gefordert, selbst darüber nachzudenken. Die erlebte Rede eignet sich somit dafür, eine Mehrdeutigkeit in die Bewusstseinswiedergabe einzubauen. Dieser Effekt findet vor allem bei Franz Kafka eine meisterhafte Anwendung:
Beispiele:
„Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte ich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war er? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? [...] Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche...“ (Franz Kafka, Der Prozess).
„Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie. Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren, ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern der Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen!“ (Franz Kafka, Das Urteil).
Die erlebte Rede besitzt die Funktion, die Distanz zwischen Erzähler und Figur aufzuheben. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass die Gefühle und Gedanken der handelnden Person nicht von ihr selbst, sondern durch den Erzähler geschildert werden. Mithilfe der erlebten Rede mischt sich der Erzähler sozusagen in das Geschehen ein.