Der Innere Monolog
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine von Arthur Schnitzler perfektionierte weitere Form der gedanklichen Figurenrede in die Literatur eingeführt: Der sogenannte „Innere Monolog“. Der Autor lässt den Erzähler in den Hintergrund treten und die Hauptfigur selbst gibt ihre Gedanken und Gefühle in der 1. Person Präsens Indikativ (Ich-Form) wörtlich wieder. Das Präteritum wird nur dann verwendet, wenn über Vergangenes berichtet wird.
Im Gegensatz zum verwandten Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) werden die grammatischen Strukturen und Sinnbezüge allerdings nicht vollständig aufgelöst. Trotz der Sprunghaftigkeit der Gedanken ist die Erzählung somit meist in vollständige und grammatikalisch korrekte Sätze gekleidet. Da sich die Figur in der Auseinandersetzung mit sich selbst ihrer intimsten Gedanken und Gefühle bewusst werden kann, bietet der Innere Monolog die Möglichkeit, das gesamte Spektrum der psychischen Vorgänge einer Figur zum Ausdruck zu bringen, die von spontanen Assoziationen und intuitiven Reaktionen bis hin zu heftigen Affekten, unkontrollierten Impulsen und disparaten Gedankensplittern reichen können.
Beim Inneren Monolog entfallen die Inquit-Formel und Redeeinleitungen in Form eines Verbs des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens, wie „sagte er“, „dachte sie“ oder „flüsterte sie“, die Distanz zum Erzählten schaffen. Durch die unmittelbare und direkte Wiedergabe der spontanen und manchmal widersprüchlichen, irrationalen oder assoziativen Gedanken und Gefühle der Figur, die ohne die vermittelnde und kommentierende Instanz des Erzählers wiedergegeben werden, wird eine Auslotung der inneren Zustände, der Bewegungen des menschlichen Bewusstseins, des Unbewussten, Geträumten oder Tabuisierten angestrebt.
Der Innere Monolog stellt folglich den erzähltechnischen Versuch dar, sprachlich die tief verborgenen Schichten des Menschen freizulegen und die unausgesprochenen Gedanken, die geheimsten Gefühle und Erinnerungen einer Figur unmittelbar wiederzugeben. Der Leser wird zum intimen Zeugen der innersten Empfindungen einer literarischen Gestalt und erlebt auf authentische Weise, wie sie ihre tiefsten Emotionen spontan ausdrückt.
Beispiel 1:
„Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren... Erst viertel auf zehn?... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt... Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen... Ja, richtig: Oratorium! Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann“ (Arthur Schnitzler, Lieutnant Gustl)
Beispiel 2:
„Ich muß mich jetzt sehr hübsch ausnehmen in der weiten Landschaft. Schade, daß keine Leute mehr im Freien sind. Dem Herrn dort am Waldesrand gefalle ich offenbar sehr gut. O, mein Herr, nackt bin ich noch viel schöner, und es kostet einen Spottpreis, dreißigtausend Gulden. Vielleicht bringen Sie Ihre Freunde mit, dann kommt es billiger. Hoffentlich haben Sie lauter hübsche Freunde, hübschere und jüngere als Herr von Dorsday? Kennen Sie Herrn von Dorsday? Ein Schuft ist er - ein klingender Schuft“ (Arthur Schnitzler, Fräulein Else)
Beispiel 3:
„Hast du nun den Don Carlos gelesen, Hans Hansen, wie du es mir an eurer Gartenpforte versprachst? Tu's nicht! ich verlange es nicht mehr von dir. Was geht dich der König an, der weint, weil er einsam ist? Du sollst deine hellen Augen nicht trüb und traumblöde machen vom Starren in Verse und Melancholie... Zu sein wie du! Noch einmal anfangen, aufwachsen gleich dir, rechtschaffen, fröhlich und schlicht, regelrecht, ordnungsgemäß und im Einverständnis mit Gott und der Welt, geliebt werden von den Harmlosen und Glücklichen, dich zum Weibe nehmen, Ingeborg Holm, und einen Sohn haben wie du, Hans Hansen, - frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger Gewöhnlichkeit!…“ (Thomas Mann, Tonio Kröger)