Der Bewusstseinsstrom

Der Begriff „Bewusstseinsstrom“ (engl. stream of consciousness) wurde erstmals vom amerikanischen Psychologen William James in seinem Werk Prinzipien der Psychologie (1890) verwendet, um eine erzähltechnische Besonderheit des Romans Les lauriers sont coupés ("Geschnittene Lorbeeren", 1888) des französischen Autors Edouard Dujardin zu benennen. Berühmte Autoren, wie James Joyce (Ulysses, 1922), Virginia Woolf (Mrs. Dalloway, 1925) oder Wolfgang Koeppen (Tauben im Gras, 1951), haben diese besondere Erzähltechnik erfolgreich eingesetzt und mitgeprägt. Vor allem in modernen Texten wird diese Technik häufig angewendet.

Die literarische Technik des Bewusstseinsstroms versucht, die Vorgänge des Bewusstseins einer literarischen Figur ohne die vermittelnde Instanz eines Erzählers direkt wiederzugeben. Sie stellt die Bemühung des Verfassers dar, die Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen einer Person unmittelbar abzubilden und ihre unkontrolliert ablaufenden Bewusstseinsvorgänge zu schildern. Der Bewusstseinsstrom zeichnet ein ungeordnetes und oft komplexes Bild der Wahrnehmungen und Empfindungen des Protagonisten. Er besteht aus einer Abfolge von assoziativ verknüpften Wörtern, die einer Person in einer bestimmten Situation ungefiltert durch den Kopf gehen. 

In ihrem Versuch, die Gedanken- und Gefühlswelt einer Figur nachzuempfinden und in Worte zu kleiden, wenden die Autoren verschiedene Techniken an, wie zum Beispiel Erzählfragmente, Montage, Reihungsstil, Perspektivenwechsel, Zeitsprünge, Fremdsprachen, Jargon oder Dialekt, literarische oder historische Referenzen, Mischung von realistischen, absurden, grotesken oder surrealistischen Elementen, Wortwiederholungen, Wortneuschöpfungen, etc. Der Gedankenfluss des Protagonisten wird ohne Beachtung der gültigen Syntax und Zeichensetzung wiedergegeben. Die verwendete Zeitform kann sowohl das Präsens als auch das Präteritum sein.

Die lose Aneinanderreihung von wirren und komplexen Gedankenfetzen und Gedankensprüngen sowie die damit verbundene höhere Erzählgeschwindigkeit des Textes, welche die besondere Erzählweise des Bewusstseinsstroms charakterisiert, erschweren die Lesbarkeit in beträchtlichem Maße. Der Text muss erst entschlüsselt werden und der Leser wird dazu aufgefordert, die gedanklichen Verbindungen selbst herzustellen, was zu Irritation und Frust beim Lesen führen kann. 

Beispiel 1: „Der Schweiß auf seiner Stirn! Die Angst, wieder! Und plötzlich rutscht ihm der Kopf weg. (…)“ (Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz)

Beispiel 2: „das Geworfensein, Kierkegaard Angst tagebuchschreibender Verführer nicht zu Cordelia ins Bett, Sartre der Ekel ich-ekele mich-nicht, ich treibe dunkele süße Onanie, das Selbst, die Existenz und die Philosophie der Existenz, Millionärin, war-mal, es-war-einmal, die Reisen der Großmutter, Wirkliche Geheime Kommerzienrätin, Onanie, dunkele süße, Auers Gasglühlicht summt, wenn-sie alles-in-Gold-angelegt-hätten [...]“ (Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras)