Psychologische Deutung
Die starren mittelalterlichen Figuren
Jede Epoche ist durch ihren Zeitgeist und ihre literarischen Besonderheiten gekennzeichnet. Während im Barock zum Beispiel Gegensätze (Antiethik) von großer Bedeutung sind, gilt Veränderung oder Entwicklung im Mittelalter oft als ein problematisches Konzept. Das Nichtabweichen von dem strengen hierarchischen und dogmatischen feudalen System gilt damals nicht nur in der Literatur als Standard. Jeder, der sich von den starren Regeln entfernt, wird vom König oder von Gott bestraft. Diese einschränkende Einstellung lebt noch weiter in der Renaissance. Ein gutes Beispiel dafür stellt die Geschichte von Galilei dar.
In seiner Nacherzählung des Nibelungenliedes zitiert der Autor Michael Köhlmeier den Dramatiker Friedrich Hebbel, der behauptet, dass das Nibelungenlied „stumm und taub“ (S. 113) sei: „Er meint damit, der Verfasser dieses Liedes, wer immer er auch war, hat uns nichts über die Psychologie seiner Helden verraten. Nur aus ihren Handlungen können wir auf die seelische Befindlichkeit der Figuren schließen“ (S. 113). Tatsächlich erzählt das Lied kaum etwas über das Innenleben seiner Figuren. Auch bleiben die Motivationen der Figuren oft im Unklaren bzw. Dunkeln.
Für andere Heldenepen ist diese Abwesenheit der Innensicht auch nichts Ungewöhnliches, wie z. B. in der Ilias und der Odyssee des griechischen Dichters Homer, wie Köhlmeier bemerkt: „Diesbezüglich geht der Verfasser des Nibelungenliedes ähnlich vor wie ein anderer großer Kollege, über den wir ebenfalls so gut wie nichts wissen, nämlich Homer. Auch die Homerischen Helden geben ihr Innenleben nicht preis. Sie handeln. Ihre Handlungen sind Zeugnisse ihrer Seelen“ (S. 113).
Bis auf einige wenige Werturteile des Erzählers wird die Handlung des Nibelungenliedes nicht kommentiert. Die Leser*innen müssen durch Handlungen und Dialoge darauf schließen, wie sich die Figuren fühlen und was sie motiviert. Das Lied lässt ihnen einen großen Interpretationsspielraum, den auch Köhlmeier in seiner Nacherzählung nur allzu gerne nutzt. Ihm war es ein ganz besonderes Anliegen, das Lied „zum Sprechen zu bringen“ (S. 114).
Das Riemann-Thomann-Modell
Die Psychologie stellt heute einige Werkzeuge bereit, mit denen mehrere Elemente der Erzählung und die Motivationen der vier Hauptfiguren des Nibelungenliedes – Siegfried, Hagen, Kriemhild und Brünhild – besser verstanden werden können. Obwohl der anonyme Autor kaum etwas über das Innenleben und die unterschiedlichen Persönlichkeitstypen berichtet, können durch ihr Handeln sowie ihr Kommunikations- und Beziehungsverhalten Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit gezogen werden. Eine gute Möglichkeit zu einer psychologischen Analyse dieser Charaktere stellt das Riemann-Thomann-Modell dar.
Der Schweizer Psychologe Christoph Thomann hat die tiefenpsychologische Studie Grundformen der Angst (1961) des deutschen Psychoanalytikers Fritz Riemann weiterentwickelt. Generell lassen sich laut seiner Theorie vier verschiedene Grundausrichtungen des Menschen beobachten, die jedoch selten in ihrer Reinform zu verzeichnen sind: Distanz, Nähe, Dauer und Wechsel. Diese üben einen starken Einfluss auf das Kommunikations- und Beziehungsverhalten eines Menschen aus.
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Nach dem Riemann-Thomann-Modell können somit zwei Gegensatzpaare, nämlich Hagen–Siegfried und Kriemhild–Brünhild unterschieden werden. Es handelt sich hierbei um Menschen mit weitgehend gegensätzlichen Weltentwürfen und Bedürfnissen. Der jeweilige Gegensatzmensch wird als Störfaktor im eigenen Lebensentwurf von der jeweiligen Figur betrachtet, wodurch es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie mit ihrem Gegenüber in Konflikt geraten.
Hagen und Siegfried trennen hauptsächlich der Rang und die unterschiedliche Auffassung hinsichtlich der Welt, die sie umgibt. Kriemhild und Brünhild können deshalb niemals keine Freundinnen werden, weil die hinterlistigen Machenschaften ihrer Ehemänner eine echte vertrauensvolle Beziehung zwischen ihnen verhindern und sich beide denselben Ehemann, nämlich Siegfried, wünschen. Diese Unvereinbarkeit der Charaktere und der Wertesysteme, die dadurch aufeinanderprallen, sowie die Spannung, die dadurch entsteht, machen das Nibelungenlied zu einer zeitlosen Erzählung, die bis heute die Kraft besitzt, die Leser*innen in ihren Bann zu ziehen.
Distanz: Brünhild
Die starke JungfrauFür Menschen mit einer ausgeprägten Distanzausrichtung sind die Freiheit und die Selbstbestimmung das Wichtigste. Sie distanzieren sich von anderen, sind misstrauisch und wirken dadurch oft unnahbar. In einer Beziehung sind solche Persönlichkeiten erst dann glücklich, wenn man ihnen sehr viel Freiheit und Möglichkeiten zum Alleinsein einräumt.
In diesem Zusammenhang kommt einem natürlich sofort Brünhild, die starke Kriegerin von Island, in den Sinn, die sich nichts gefallen lassen möchte. Allein der Umstand, dass sie als Königin isoliert auf einer Insel lebt und alle Männer, die um ihre Hand anhalten – also ihre Selbstbestimmung bedrohen – zu einem Wettbewerb herausfordert, spricht Bände. Sie besitzt die Kraft von sechs Männern und ist damit so stark, dass es niemandem gelingt, sie zu besiegen. Sie ist nicht nur „wunderschön“, sondern auch „grausam“ (S. 78). Bisher hat die unnahbare Königin alle ihre Freier mitsamt deren Gefolge umgebracht.
Als es dem Burgundenkönig Gunther – aber nur mithilfe einer List – dennoch gelingt, sie zu besiegen, kann Brünhild dies nicht glauben und setzt ihren Unabhängigkeitskampf im Ehebett fort, indem sie Gunther den Vollzug der Ehe verweigert. Darüber hinaus macht sie ihren frischen E...