Höfische Welt, mythische Welt und Märchenwelt

Die Verschmelzung der höfischen, mythischen und märchenhaften Welten

Obwohl die Rahmenhandlung des Nibelungenliedes auf einem – wie für eine Sage typisch – wahren (historischen) Kern basiert, werden immer wieder mythische, märchenhafte und übernatürliche Elemente in die Geschichte eingeflochten: „Die Geschichte der Nibelungen mäandert zwischen Historischem, Sagenhaftem und Märchenhaftem dahin“ (S. 38). Diese Verschmelzung von Mythologie und (pseudo)historischer Realität findet auch in anderen hochmittelalterlichen Epen, zum Beispiel in Parzival, ihren Niederschlag.

Der Autor Michael Köhlmeier führt diese Verschmelzung der höfischen, mythischen und märchenhaften Welten auf die mündliche Tradierung der Nibelungensage zurück, die in vielen voneinander abweichenden Varianten existiert hat, sodass der anonyme Verfasser dazu gezwungen war bzw. die Möglichkeit hatte, aus einem Kanon an Teilgeschichten auszuwählen, um diese neu zu kompilieren: „Wie alle diese Sagen, die zuletzt in einem Epos oder einem Lied, in einer reproduzierbaren Form der Erzählung, zusammengefaßt wurden, basiert auch das Nibelungenlied auf verschiedenen Geschichten aus verschiedenen Zeiten, die der Autor, wer immer er auch war, zu einem neuen Ganzen komponiert hat. Jede der ursprünglichen Geschichten gab es in verschiedenen Variationen. Verschiedene Erzähler trugen sie in verschiedene Länder, dort entwickelten sie sich gemäß der jeweiligen Situationen verschiedenartig weiter. Nicht anders liegt der Fall beim Nibelungenlied“ (S. 38-39).

Höfische Welt

Im Laufe des Frühmittelalters hat sich in Europa ein neues politisches und soziales System aus gegenseitigen Abhängigkeiten herausgebildet, das Lehens- und Feudalwesen. Lehnsherren (Fürst, König, Kaiser) und Lehnsmänner (hohe Adelige) schwören sich gegenseitige Treue und regieren das ihnen untertänige Land (siehe dazu „Epoche – Feudalismus und Lehnswesen“).

Die Residenzstatt des Lehnsherrn ist der sogenannte Hof (lat. curia; franz. cour). Neben dem Lehnsherrn leben dort auch seine Familie und seine wichtigsten Lehnsmänner. Der Hof ist streng hierarchisch und zeremoniell organisiert. Vier Höfe kommen im Nibelungenlied vor: Der Hof zu Worms, der Xantener Hof, Brünhilds Hof auf Island und Etzels Hof, die Etzelburg. 

Besonders häufig und sehr detailliert kommt der Wormser Hof vor. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es mit Gunther, Gernot und Giselher gleich drei Regenten gibt, sie bilden ein sogenanntes Triumvirat. Hagen von Tronje hat zwar offiziell kein Hofamt inne, doch kommt ihm als erstem Berater Gunthers eine besonders mächtige Stellung zu. Volker von Alzey ist der Spielmann am Hof. Zur Verwaltung dienen die sogenannten Hofämter: Kämmerer, Marschall, Truchsess/Seneschall, Mundschenk und Brotmeister/Küchenmeister.

Wer in Worms die Hofämter innehat, wird im Nibelungenlied deutlich beschrieben:

  • Der Kämmerer (Hunold): Zuständig für die Schatzkammer. Ursprünglich der Kammerdiener des Lehnsherrn.
  • Der Marschall (Dankwart): Oberbefehlshaber der Ritter und Knappen. Ursprünglich der Stallmeister.
  • Der Truchsess/Seneschall (Ortwein von Metz): Leiter der Hofverwaltung.
  • Der Mundschenk (Sindold): Zuständig für die Bereitstellung von Wein und anderen Getränken.
  • Der Küchenmeister/Brotmeister (Rumold): Zuständig für die herrschaftliche Tafel.

Für die Rechtsprechung sind die Markgrafen Gere und Eckehart zuständig. Alle dieser Hofbeamten werden im Nibelungenlied auch als hervorragende Kämpfer charakterisiert. Als Gunther mitsamt seinem Hofstab nach Ungarn reist, bleibt Rumold als Gunthers Stellvertreter zurück.

Wie man erkennen kann, ist der mittelalterliche Hof klar strukturiert. Verschiedene Zeremonien und Rituale prägen das höfische Geschehen. Ein Ausbrechen aus diesen höfischen Normen wird als skandalös eingestuft. Zum Beispiel begeht der naive Siegfried, als er nach Worms kommt, mehrere Fehler: Zuerst hält er Hagen für den König, danach möchte er mit Gunther um die Hand von dessen Schwester kämpfen. Glücklicherweise erkennen die Burgunden, dass Siegfried aus Ungestüm und Naivität handelt und belächeln ihn lediglich. Sein unhöfliches (auch hier wieder der „Hof“) Handeln bleibt ohne Konsequenzen. Hagen erkennt aber damit bereits zu Beginn eine große Schwäche des Helden: seinen Stolz.

Stolz ist generell eine Eigenschaft, die in der Literatur des Mittelalters, so auch im Nibelungenlied, eine große Rolle spielt. Der Stolz der beiden Damen Kriemhild und Brünhild bildet die Ursache für den Streit der Königinnen vor dem Wormser Münster, der wiederum die weiteren tragischen Begebenheiten auslöst. Auch Hagen wendet sich deshalb gegen Siegfried, weil dieser seinen Stolz verletzt hat.

Mit dem Feudalwesen entwickelt sich auch das Rittertum. Ein Ritter gilt als ehrenhafter Krieger, der für Gerechtigkeit kämpft, stark und geschickt ist und viele Abenteuer erlebt. Im Nibelungenlied spielt der Ritter eine große Rolle. Obwohl alle männlichen Protagonisten im Lied ausgezeichnete Kämpfer sind, gibt es einen, der sie alle an Stärke übertrifft: Der märchenhafte Ritter und Held Siegfried von Xante...

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