Historischer Hintergrund

Die Zeit der Völkerwanderung

Die Handlung des Nibelungenliedes geht auf die Spätantike, also auf die Zeit der Völkerwanderung, zurück. Als Völkerwanderung wird die Massenmigration zumeist germanischer Stämme aus dem Barbaricum nach Mittel-, Ost- und Südeuropa in der Spätantike, und zwar zwischen dem ausgehenden 4. Jahrhundert und dem Ende des 6. Jahrhunderts, bezeichnet. 

Durch innere Konflikte und Bürgerkriege wird das Weströmische Reich damals zunehmend geschwächt. Das so entstehende Machtvakuum wird durch neu gegründete Reiche nichtrömischer Stämme, wie die Vandalen oder die Goten, gefüllt. Sicherlich spielen auch die Hunnen, die seit dem 4. Jahrhundert nach Westen vordringen und somit ganze Völker zur Flucht ins Römische Reich zwingen, eine nicht zu unterschätzende Rolle bei dem Untergang des Weströmischen Reiches im Jahre 476.

Den Neuankömmlingen ist aber meist nicht daran gelegen, die römische Kultur zu zerstören. Im Gegenteil, die Strukturen der Römer werden als überlegen angesehen. Viele davon, wie die Burgunder, werden zeitweise als Foederaten zu Alliierten der Römer oder stellen sich auch als Legionäre in deren Dienste. Die Leistungen für und die Angriffe auf Rom wechseln einander ab. Die Völkerwanderung führt zu einer Verschmelzung der antiken römischen Kultur mit der Lebensweise der germanischen Völker und dem Christentum. Sie schafft neue strukturelle politische Grundlagen in Westeuropa und eine neue Ordnung mit einer Mehrzahl von Staaten, die zumeist ethnisch benannt werden.

Bis heute bleibt die Epoche der Völkerwanderung in vielen ihrer Aspekte rätselhaft. Er wird angenommen, dass sie durch Ernährungsprobleme aufgrund von Klimaschwankungen, durch die Verdrängung durch kriegerische Nachbarvölker sowie durch die Hoffnung auf günstigere Lebensbedingungen im Römischen Reich ausgelöst wurde. Die Frage, ob die Migration der Germanen Ursache oder Folge des Zerfalls von Westrom gewesen ist, wird immer wieder aufs Neue gestellt und kann nicht eindeutig beantwortet werden. Später wird dieses Zeitalter in der germanischen Heldenepik eine starke Mythologisierung und Idealisierung erfahren (siehe „Merkmale der Heldendichtung im Werk“).

Burgunder und Burgunden

Im Nibelungenlied ist stets die Rede von den Burgunden. Um die Dichtung von den historisch belegten Fakten zu unterscheiden, werden zwei verschiedene Begriffe verwendet: Burgunder und Burgunden. Die Burgunden sind Gunthers fiktives Volk im Lied, während die Burgunder in Fachtexten einen realen germanischen Stamm bezeichnen.

Burgunder

So wie jede Sage enthält auch die Nibelungensage einen wahren Kern. Sie nimmt ihren Ursprung im Zeitalter der Völkerwanderung. Die Hauptakteure in der Erzählung sind die Burgunder, ein vermutlich ostgermanisches Volk, welches im Laufe der ersten Jahrhunderte nach Christi eine Südwestwanderung vollzog. 

Theorien zufolge haben sich die Burgunder von der Insel Bornholm (Altnordisch: Burgundarholmr) im heutigen Dänemark auf den Weg nach Süden gemacht. Ob es sich bei Bornholm um die Urheimat der Burgunder oder lediglich um einen Zwischenstopp gehandelt hat, ist in der Wissenschaft umstritten.

Im ersten Jahrhundert gelangen die wandernden Burgunder nach Pommern und im zweiten Jahrhundert in die Netze-Warthe-Region im heutigen Polen. Ein ebenfalls nach Süden vordringendes ostgermanisches Volk, die Gepiden, verdrängen die Burgunder nach Westen, weshalb sich diese erneut auf die Suche nach einer neuen Heimat machen müssen. 

Ende des dritten Jahrhunderts erreicht das burgundische Volk den oberen Main, bevor es gemeinsam mit anderen germanischen Kriegerverbänden im Jahre 406 den Rhein überschreitet und somit in das geschwächte weströmische Reich eindringt. Während die anderen Völker weiterziehen, werden die Burgunder am westlichen Rheinufer sesshaft. Es liegen nur wenige Hinweise auf die exakte Lokalisierung dieses rheinischen Burgunderreiches vor. Sie okkupieren wahrscheinlich die Gegend um Worms oder Mainz, die ungefähr dem heutigen Bundesland Rheinland-Pfalz entsprechen würde.

Im frühen 5. Jahrhundert haben sich die Burgunder mit den Römern arrangiert, sie werden als Söldner (foederati) des weströmischen Reiches damit beauftragt, die Rheingrenze zu sichern. Im Gegenzug wird ihnen das Gebiet am Rhein vom römischen Kaiser Flavius Honorius (384 – 423) vertraglich zugesichert. In dieser Zeit sollen die Burgunder auch christianisiert worden sein. Ca. 20 Jahre lang wird diese Abmachung von beiden Seiten eingehalten.

Als aber in den 430er Jahren Westrom in eine innenpolitische Krise gerät, will ...

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