Monsieur Ibrahim
Der „Araber“ in der Rue Bleue
Der Titel von Schmitts Erzählung Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran verweist bereits deutlich darauf, dass M. Ibrahim neben der Hauptfigur Momo eine zentrale Position in der Geschichte einnimmt. Er ist ein türkischer Gemischtwarenhändler aus Anatolien, der einen sehr kleinen Laden in der Pariser Rue Bleue besitzt. Sein Laden ist nicht größer als ein Badezimmer, aber vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit allem Lebensnotwendigen „und auch das nicht so Notwendige“ (S. 41).
M. Ibrahim trägt stets „einen grauen Kittel über einem weißen Hemd“ und seine „Zähne [sind wie] aus Elfenbein unter einem dürren Schnurrbart und Augen wie Pistazien, grün und braun, heller als seine bräunliche Haut voller Weisheitsflecken“ (S. 13-14). Seine Stimme ist eher ein „Stimmchen, dünn wie Zigarettenpapier“ (S. 81) und er spricht Französisch mit einem leichten Akzent.
Seit mindestens vierzig Jahren führt M. Ibrahim seinen Laden in der jüdischen Gemeinschaft der Rue Bleue und jeden Tag kauft Momo bei ihm die Dinge des täglichen Bedarfs ein. So sieht M. Ibrahim den Jungen im Laufe der Zeit heranwachsen und kennt viele Einzelheiten über ihn sowie in Bezug auf das Leben seines Vaters.
Für Momo ist M. Ibrahim „schon immer alt“ (S. 13) gewesen. Auch alle anderen Menschen im Umfeld der Rue Bleue haben den Eindruck gewonnen, dass dieser seit jeher diesen Kolonialwarenladen besitzt, in dem er seine Waren bis spät in die Nacht hinein verkauft. M. Ibrahim und sein Laden scheinen eine untrennbare Einheit zu bilden und sind zu einer fest etablierten Institution in der Straße geworden: „…von acht Uhr früh bis tief in die Nacht hockte er fest verankert zwischen seiner Kasse und den Putzmitteln, ein Bein im Gang, das andere unter einem Stapel von Streichholzschachteln“ verborgen (S. 13).
In seinem Umfeld gilt er als ein „weiser Mann“ (S. 14), da er sich nicht von der Hektik der Pariser anstecken lässt. Stattdessen lächelt er viel und spricht wenig. Sein Motto ist: „Die Langsamkeit, sie ist das Geheimnis des Glücks.“ (S. 83). Ihn umgibt eine Aura des Mystischen: Seine Regale scheinen sich wie von Zauberhand zu füllen und niemand weiß, wohin er in der Nacht verschwindet – zu keinem Zeitpunkt trifft ihn Momo in seiner Wohnung an. Zudem kann er scheinbar Gedanken lesen (vgl. dazu Analyse/Märchen). Mit seinem unwiderstehlichen Lächeln und seinem ganz besonderen Charme hat er eine sehr positive Ausstrahlung auf seine Mitmenschen.
Aufgrund seines islamischen Glaubens gilt er unter den jüdisch geprägten Anwohnern der Rue Bleue als Araber, obwohl er aus Anatolien, einer Gegend der Türkei, stammt. Er erklärt Momo, dass die Bezeichnung „Araber“ vielmehr eine andere Bedeutung hat: „Araber, Momo, das bedeutet in unserer Branche: Von acht bis vierundzwanzig Uhr geöffnet, auch am Sonntag.“ (S. 17). Mit dieser augenzwinkernden Bemerkung wird diese eher abwertende Bezeichnung mit der positiven Eigenschaft eines hart für sein Geld arbeitenden Menschen verknüpft. Er erklärt Momo, dass er nicht aus dem arabischen Raum stammt, sondern aus einer Region, „die von Anatolien bis Persien reicht“ (S. 16) und bezeichnet sich selbst als Sufi (siehe dazu Epoche „Sufismus“).
M. Ibrahim ist ein bodenständiger, fleißiger, zuverlässiger Mensch mit viel Empathie, der sein Leben lang hart arbeitet. Hierbei lässt er sich aber viel Zeit und konzentriert sich nicht auf die Maximierung seiner Kundschaft oder seines Gewinns - dennoch schafft er es, mit seinem Charme dem Filmstar Brigitte Bardot eine Flasche Wasser für 40 Francs zu verkaufen (S. 21). Er ist mit dieser bodenständigen Einstellung finanziell erfolgreich und kann, und zwar im Gegensatz zu Momos Vater, der trotz seines Berufes als Rechtsanwalt unter ständiger Geldknappheit leidet, dem Jungen Schuhe kaufen und ein Auto in bar bezahlen.
M. Ibrahim ist verheiratet, will aber anfangs die Frage nicht beantworten, wo seine Frau lebt. Wie auch bei Glaubensfragen bleibt er hier vage: „Momo, keine Antwort ist auch eine Antwort.“ (S. 58). Später erklärt er ihm, dass seine Frau schon seit langem in die Heimat zurückgekehrt ist und er daher tun und lassen kann, was er will. Erst am Ende der Erzählung wird diese Frage aufgelöst: Als er nach einem Autounfall auf der Reise nach Anatolien im Sterben liegt, gesteht er schließlich ein, dass seine Frau bereits seit langem verstorben ist.
Der Beginn der Freundschaft zwischen Momo und Ibrahim
Auch wenn Momo mit seinem Vater schon längere Zeit in der Wohnung in der Rue Bleue lebt und bei M. Ibrahim regelmäßig und seit langer Zeit einkauft, kommt es erst dann zu einer Annäherung zwischen den beiden, als der elfjährige Momo mit seinen Besuchen bei den Prostituierten beginnt und sich emotional von seinem Vater distanziert. „Ungefähr um diese Zeit“ (S. 13) lernt er nun nach und nach M. Ibrahim kennen.
Zu Beginn ist das Verhältnis zwischen dem Jungen und dem alten Mann von Vorurteilen seitens Momo geprägt. Momo stiehlt seinem Vater Geld, um ihn für sein Misstrauen zu bestrafen. Gleichzeitig stiehlt er jeden zweiten Tag Konservendosen bei M. Ibrahim. Er schämt sich „zwar ein wenig“, aber er beruhigt sein schlechtes Gewissen damit, dass er sich beim Bezahlen selbst einredet: „Was soll´s, er ist ja nur ein Araber!“ (S. 15).
M. Ibrahim bemerkt zwar diese Diebstähle, doch stellt er den Jungen nicht zur Rede. Vielmehr hebelt er dessen Konzept geschickt aus den Angeln, indem er ihn darauf hinweist, dass er kei...