Briefroman
Fiktive Briefe und Gefühlsdarstellung
Der Briefroman besteht aus einer Reihe chronologisch geordneter fiktiver Briefe, kann aber auch Tagebucheinträge, Vor- oder Nachworte sowie Zwischenkommentare enthalten. Die Briefe können nur aus der Hand des Ich-Erzählers stammen und an andere Figuren gerichtet sein, aber auch Korrespondenzen zwischen zwei oder mehreren Charakteren zum Inhalt haben. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich hierbei um eine spezielle Darstellungsform handelt, für die sich ein Autor entschieden hat. Autor und Briefschreiber dürfen auf keinen Fall gleichgesetzt werden, die Unterscheidung zwischen der realen und der Briefe schreibenden Person ist stets zu beachten.
Charakteristisch für den Briefroman ist seine nach innen gerichtete Erzählweise: Die Gefühle und die persönliche Bewertung des Erlebten stehen im Vordergrund, die Handlung ist ausschließlich aus der emotionalen Wahrnehmung des Ich-Erzählers heraus lesbar. Die Zeitdifferenz zwischen Erleben und Erzählen scheint deshalb aufgehoben zu sein, da in den Briefen nur die Reflexion (also nur das Erzählen) eine Rolle spielt.
Der fingierte Brief eignet sich aber nicht nur für die Gefühlsdarstellung besonders gut, er bietet außerdem viel Raum für sprachliche Freiheiten. Tagebucheinträge und Briefe sind nicht für ein breites Publikum gedacht, daher können sich die Briefschreiber, je nach Adressat, eine freie, leicht zugängliche und alltägliche Sprache erlauben. Das führt dazu, dass das Lesepublikum mit der Figur sympathisiert sowie ein Gefühl der Intimität entwickelt.
Monoperspektivität oder Multiperspektivität
Wenn die fingierte Briefsammlung aus der Hand eines Briefschreibers stammt, wird die Struktur des Romans als „monoperspektivisch“ bezeichnet. Dies ist zum Beispiel in Johann Wolfgang Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) der Fall, der aus 92 Briefen besteht, die in zwei Bücher unterteilt sind. Sämtliche Briefe stammen aus der Zeitperiode zwischen Mai 1771 und Dezember 1772 und sind überwiegend von dem Hauptprotagonisten Werther an seinen Freund Wilhelm gerichtet. Wilhelms Antworten sind für den Leser dagegen nicht zugänglich.
Bildet die fingierte Briefsammlung Texte verschiedener Personen ab, wird die Struktur des Romans als „multiperspektivisch“ charakterisiert. Dies trifft beispielsweise auf Daniel Glattauers moderne Version eines Briefromans Gut gegen Nordwind zu: Die Hauptfiguren Leo und Emmi schreiben sich über einen Zeitraum von circa eineinhalb Jahren im stetigen Wechsel zahlreiche E-Mails. Der E-Mail-Roman ist als Dialog angelegt und greift die Muster und Konventionen der Gattung Briefroman auf (siehe dazu auch „E-Mail-Roman/Briefroman / Vergleich mit Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe“).
Der Briefroman ist eine Form der Ich-Erzählung, die es dem Rezipienten erlaubt, in die Gefühls- und Gedankenwelt der Romanfigur direkt und unmittelbar einzutauchen. Der Schriftsteller macht den Rezipienten zu seinem Vertrauten und erlaubt ihm, die intimsten inneren Seelenvorgänge und Stimmungen des Charakters zu erfahren. Dies weckt ein Gefühl der Vertrautheit und tiefer Verbundenheit sowie Intimität beim Leser in Bezug auf die Romanfigur.
Besteht die Erzählung aus Briefen von mehreren Korrespondenten, so werden dem Rezipienten differenzierte Blickwinkel auf die Handlungsvorgänge verschafft. Dies ermöglicht eine vielschichtige Darstellung der Charakterzüge des Hauptprotagonisten sowie der Handlungsprozesse.
Ursprung und Blütezeit des Briefromans
Der Ursprung des Briefromans lässt sich nur schwer bestimmen. Bereits in der Antike greifen die Schriftsteller und Philosophen auf die Darstellungsform der fingierten Briefsammlungen zurück. Direkte Vorläufer der Gattung sind jedoch erst ab dem 13. Jahrhundert zu finden, so zum Beispiel der Briefwechsel zwischen Abelard und Heloise, eingebunden in Jean de Meungs Roman de la Rose (circa 1270–1280). Weitere Beispiele für frühe Briefromane sind die Texte des spanischen Dichters Jean de Segura Processo de cartas de amores que entre dos amantes pasaron (1548) und des italienischen Schriftstellers Luigi Pasqualito Lettere amorose (1602).
Nach der erfolgreichen Etablierung der Gattung im 17. Jahrhundert findet diese ihre vollständige Ausprägung und Blütezeit im Europa des 18. Jahrhunderts, welche in einem engen Zusammenhang mit der lebhaften zeitgenössischen Briefkultur stehen. Zwischen 1740 und 1800 werden in Europa 700 Briefromane veröffentlicht.
Ausgelöst wird die europäische Briefromanmode durch die Texte des englischen Autors Samuel Richardson: Pamela (1740), Clarissa (1748) und Sir Charles Grandison (1754). Sie erreicht ihren Höhepunkt im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Prägend für die Gattung ist auch Jean-Jacques Rousseaus autobiografischer Liebesroman La Nouvelle Héloïse (1761).
Die einfühlsamen Erzählungen sind beliebt und stellen besonders für das weibliche Lesepublikum eine faszinierende Möglichkeit der Emotionalitäts- und Gefühlserkundung dar. Die Briefstruktur erlaubt eine unmittelbare Nähe zur Figur, womöglich sogar eine Art der Identifikation mit dem Briefschreiber. Für die männlichen Werther-Leser ist diese Identifikation sogar gefährlich gewesen. Abgesehen von der Nachahmung des Kleidungsstils haben viele junge Männer nach der Lektüre die Entscheidung getroffen, Selbstmord zu begehen, was aufgrund der Nachahmungsgefahr zu einem Verbot des Romans geführt hat.
Dennoch markiert Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) als künstlerisch geschlossener und in seiner Darstellungsweise konsequenter Text einen bedeutsamen Gipfelpunkt der Gattung. Auch Sophie von la Roches Fräulein von Sternheim (1771) verkörpert als erster deutschsprachiger Briefroman einen prominenten Vertreter der Gattung.
Neben der Briefromanmode entwickelt sich in der Epoche der Empfindsamkeit eine ausgeprägte Briefkultur (siehe dazu Literaturepoche „Empfindsamkeit“). Im 19. Jahrhundert geht die Popularität des Briefromans zurück. Heute erlebt die Gattung eine Renaissance in Form von E-Mail- oder SMS-Romanen.
Unsere Werke:
Die Leiden des jungen Werthers (Johann Wolfgang von Goethe, 1774)
Gut gegen Nordwind (Daniel Glattauer, 2006)