Märchen

Was ist ein Märchen?

Das Wort ‚Märchen‘ stammt vom mittelhochdeutschen Wort ‚Märe‘ ab und bedeutet ‚Nachricht, Kunde‘. Bei einem Märchen handelt es sich um eine kürzere Prosaerzählung, die wunderbare, übernatürliche und magische Begebenheiten schildert. Ein Märchen spielt sich in einer irrealen und fantastischen Welt ab. Ort und Zeit werden nicht genau, sondern nur vage angegeben: „In einem weit entfernten Königreich einer längst vergangenen Zeit …“, „Es war einmal in ...“.

Ein Held steht im Mittelpunkt der einfachen linearen Handlung. Er wird vor eine bestimmte und fast unmögliche Aufgabe gestellt, die es zu bestehen gilt. Er gerät in eine schwierige Situation, aus der sie sich durch eigene Kraft oder mithilfe von anderen befreien können. Oft muss er eine Reise durchstehen und sich mit guten und bösen oder auch natürlichen und übernatürlichen Kräften auseinandersetzen. Das Märchen trägt oft den Namen der Hauptfigur, zum Beispiel Rotkäppchen, Der standhafte Zinnsoldat, Der Rattenfänger von Hameln oder Sindbad der Seefahrer.

Die Figuren und Fantasiewesen des Märchens sind meistens typisiert. Sie sind durch bestimmte Eigenschaften gekennzeichnet, zum Beispiel der reiche König und die kluge Königin, der junge Prinz und die schöne Prinzessin, die böse Stiefmutter, die gute Fee, der hinterlistige Zauberer, die hässliche Hexe, der gefährliche Räuber. Oft sind die Charaktere konträr und stereotyp angelegt: feige – mutig, klug – dumm, schön – hässlich, reich – arm.

Ähnlich wie in der Fabel können Tiere und magische Gestalten als Hauptfiguren in den Erzählungen auftreten. Sie können sprechen und handeln wie Menschen. Sie verfügen manchmal über Zauberkräfte und agieren als Helfer, wie zum Beispiel in Der gestiefelte Kater oder Hänsel und Gretel. Neben den Fabelwesen spielen magische Gegenstände, wie die Siebenmeilenstiefel, die Wunderlampe oder der fliegende Teppich, die mit übernatürlichen Eigenheiten ausgestattet sind, eine entscheidende Rolle in Märchen.

Das Märchen läuft auf ein Happyend hinaus, also auf ein glückliches Ende. Am Ende siegt immer das Gute und das Böse wird bestraft. Allerdings weist der Held häufig eine Charakterschwäche auf, der er sich (neben all den anderen Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert wird) stellen und die er schließlich überwinden muss, um an das Ziel, oft Glück, Reichtum oder Liebe, zu gelangen. Eine zentrale Rolle spielen Reime, Lieder, Symbole, Zaubersprüche sowie magische Zahlen, zum Beispiel zwei gute Feen, drei Wünsche oder Rätsel, sieben Zwerge oder Jahre, zwölf Aufgaben oder Gesellen.

Märchen sind ursprünglich für Erwachsene geschrieben worden, aber die einfache Erzählstruktur und die eindimensionalen Figuren machen Märchen besonders bei Kindern beliebt. Animationsfilme haben das Märchen heute stark popularisiert.

Volksmärchen 

Die Gattung des Märchens ist uralt. Ursprünglich wurden Märchen traditionell als einfache und schlichte Erzählungen mündlich überliefert und besitzen daher keinen Verfasser, wie zum Beispiel die orientalische Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht. Diese Erzählungen werden als Volksmärchen bezeichnet. Sie spielen in einer unbestimmten Vergangenheit. Beliebte Schauplätze sind Burgen und Schlösser, dunkle Wälder, abgelegene Hütten und dergleichen. Eine genaue, gar real existierende Ortsangabe fehlt jedoch, stattdessen wird auf Formeln, wie „in einem fernen Land“ o. Ä., zurückgegriffen. 

Die Sprache, der Stil und der Aufbau von Volksmärchen sind schlicht und einfach. Bestimmte sprachliche Wendungen und Formeln kehren oft in den Erzählungen, die im Präteritum verfasst sind, wieder: „Es war einmal“, „und wenn sie nicht gestorben sind, ...“. 

Leicht verständlich und typenhaft sind die Figuren der Volksmärchen gezeichnet. Ihr Innenleben und ihre psychologischen Handlungsmotive bleiben unberücksichtigt. Statt Individuen findet man anonyme Bezeichnungen, die sich auf den Beruf oder die soziale Rolle beziehen: der Bettler, der König, der Schneider usw. Darüber hinaus grenzen sich die Charaktere durch gegensätzliche Eigenschaften voneinander ab: gut vs. böse, faul vs. fleißig, klug vs. dumm …

Ein Volksmärchen ist oft dreiteilig aufgebaut. In der Einleitung werden die handelnden Personen, der Schauplatz und der bevorstehende Konflikt vorgestellt. Im Hauptteil befindet sich die Hauptfigur in einer Not- oder Konfliktsituation und muss eine Prüfung bestehen bzw. eine Aufgabe lösen. Der Held kämpft auf der Seite der Guten und muss sich gegen das Böse behaupten. Der kurze dritte Teil schließt deshalb mit einem Happyend ab, weil es dem Helden am Ende gelingt, die ursprüngliche Ordnung wiederherzustellen.

Vor allem in der Romantik sind zahlreiche Sammlungen von Volksmärchen, zum Beispiel von den Brüdern Grimm, zusammengestellt worden. Das Volksmärchen prägt das Bild der Märchen-Gattung bis heute. Es zeichnet sich hauptsächlich durch seine übernatürlichen Begebenheiten und magischen Wesen aus. Nicht zuletzt ist es mit einer Moral verbunden, die gute und tugendhafte Eigenschaften als didaktisches Ideal vermittelt.

Kunstmärchen

Kunstmärchen sind von namentlich bekannten Autoren, wie zum Beispiel Hans Christian Andersen oder Charles Perrault, verfasst worden. Damit grenzt sich das Kunstmärchen vom anonym überlieferten Volksmärchen ab. 

Kunstmärchen sind kunstvoll gestaltet und oft umfangreicher und komplexer als Volksmärchen. Zwar übernimmt das Kunstmärchen viele Elemente des Volksmärchens, verfolgt jedoch anspruchsvollere literarische Ambitionen. Allem voran ist die Sprache des Kunstmärchens gehaltvoller und von höherem literarischen Niveau. Auch der Aufbau ist zumeist mehrdimensional und komplex, indem beispielsweise mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft werden oder die chronologische Erzählweise durchbrochen wird.

Kunstmärchen zeichnen sich durch eine bilderreiche Sprache und ausgearbeitete Charaktere aus. In vielen Kunstmärchen werden ein komplexes Weltbild, mehrdimensionale Charaktere und eine mehrsträngige Handlung präsentiert. Sie behandeln die gleichen Themen und Motive wie die Volksmärchen und verwenden auch deren Stil. Ebenfalls wird das Gute belohnt und das Böse bestraft, aber sie enden nicht immer mit einem Happyend. Ohne Botschaft sind diese Texte dennoch nicht, vielmehr verarbeiten sie gesellschaftliche oder politische Phänomene ihrer Zeit und schrecken dabei auch vor den Mitteln der Satire und Ironie nicht zurück.

Nicht zuletzt sind die Figuren der Kunstmärchen vielschichtiger als die Stereotype des Volksmärchens. Ihre Handlungen sind psychologisch motiviert und sie durchlaufen eine charakterliche Entwicklung. Insgesamt ist die Innenwelt bzw. Subjektivität der Figuren von großem Interesse. Typisch für die Gattung ist ein innerer Zwiespalt der Hauptfigur.

Die Gattung des Kunstmärchens geht bis auf die Zeit der Antike zurück und sind von vielen Autoren der Romantik wieder aufgegriffen worden. Zu den bekanntesten Autoren gehören, neben E.T.A. Hoffmann, Adelbert von Chamisso, Clemens Brentano, Novalis und Ludwig Tieck. Die Kunstmärchen, die Reales und Irreales miteinander vermischen, werden zur bevorzugten Form der romantischen Dichter, weil sie die Grenzen der realen Welt überschreiten. Ludwig Tieck, Novalis, Clemens Brentano und E.T.A Hoffmann verfassen beispielsweise sozialkritische Kunstmärchen oder fantastische Erzählungen, die Anklänge an die Gattung des Märchens enthalten.

Kunstmärchen vs. Volksmärchen

Das Kunstmärchen übernimmt einerseits viele Elemente des klassischen Volksmärchens, grenzt sich andererseits jedoch von diesem ab. Beiden Gattungen gemeinsam sind vor allem die übernatürlichen Gegebenheiten und magischen Wesen sowie die Verwendung von Archetypen und Symbolen. Im Gegensatz zum anonym überlieferten Volksmärchen ist der Autor eines Kunstmärchens jedoch namentlich bekannt und gilt als Verfasser einer literarischen Neuschöpfung. 

Das Kunstmärchen verfolgt anspruchsvollere literarische Ambitionen. Seine Sprache ist gehaltvoller und von höherem literarischem Niveau. Auch der Aufbau ist zumeist mehrdimensional und komplex, indem beispielsweise mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft werden oder die chronologische Erzählweise durchbrochen wird. 

Nicht zuletzt sind die Figuren vielschichtiger als die Stereotype des Volksmärchens. Ihre Handlungen sind psychologisch motiviert und sie durchlaufen eine charakterliche Entwicklung. Vor allem widersprüchliche und zwiespältige Figuren geraten in den Fokus. 

Kunstmärchen gehen über ein profanes Schwarz-Weiß-Schema hinaus und stellen nicht zwangsläufig Gut und Böse gegenüber. Entsprechend fehlen auch die einseitige Moral sowie das klassische Happyend. Ohne Botschaft sind diese Texte dennoch nicht, vielmehr verarbeiten sie gesellschaftliche oder politische Phänomene ihrer Zeit und schrecken dabei auch vor den Mitteln der Satire und Ironie nicht zurück. 

Während Ort und Zeit im klassischen Volksmärchen zumeist unbestimmt sind, können diese im Kunstmärchen näher benannt werden.

Merkmale der VolksmärchenMerkmale der Kunstmärchen
Mündliche Überlieferungen, kein bestimmter AutorBestimmter Verfasser
Wunderbare, zauberhafte, fantastische ProsaerzählungWunderbare, zauberhafte, fantastische Prosaerzählung
Gleiche Themen und gleicher StilGleiche Themen und gleicher Stil
Typisierte Märchenfiguren, Fantasiewesen, sprechende Dinge und TiereTypisierte Märchenfiguren, Fantasiewesen, sprechende Dinge und Tiere
Held oder Heldin im Mittelpunkt, der/die Aufgabe oder Rätsel lösen sollHeld oder Heldin im Mittelpunkt, der/die Aufgabe oder Rätsel lösen soll
Magische Zahlen und SymboleMagische Zahlen und Symbole
Das Gute ?gewinnt?, das Böse ?verliert?Das Gute ?gewinnt?, das Böse ?verliert?
Einfache HaupthandlungBinnen und Rahmenhandlung
Einfache SpracheBilderreiche Sprache
Einfaches WeltbildKomplexes Weltbild
Vage Ort- und ZeitangabenBestimmteOrt- und Zeitangaben
Einfache CharaktereMehrdimensionale Charaktere
HappyendKein eindeutiges Happyend
MoralischSatirisch, ironisch, sozialkritisch

Unsere Märchen oder Werke die Merkmale des Märchens ausweisen:

Der goldne Topf (E.T.A. Hoffmann, 1814)

Klein Zaches, genannt Zinnober (E.T.A. Hoffmann, 1819)

Aus dem Leben eines Taugenichts (Joseph von Eichendorff, 1826)

Das Schloß Dürande (Joseph von Eichendorff, 1837)

Kleider machen Leute (Gottfried Keller, 1874)

Siddhartha (Hermann Hesse, 1922)

Momo (Michael Ende, 1973)

Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran (Éric-Emmanuel Schmitt, 2001)