Dekadenz
Eine Strömung der Moderne
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsteht eine Reihe von literarischen Strömungen, die unter dem Sammelbegriff „Literaturepoche der Moderne“ zusammengefasst werden. Zu diesem Stilpluralismus gehören unter anderen der Impressionismus, der Expressionismus, der Dadaismus, der Jugendstil, die Dekadenz, die Wiener Moderne und die Neoromantik. Sie sind durch die Gemeinsamkeit gekennzeichnet, dass sie eine Gegenbewegung zum Naturalismus, der versucht, alles so echt und genau wie möglich darzustellen, bilden und dass sie das Individuum und die Subjektivität (Erfahrung, Gefühle, Eindrücke) in den Mittelpunkt rücken.
Die Stimmung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist von Fortschrittsoptimismus, Technikbegeisterung und Veränderung geprägt, aber gleichzeitig auch durch Zukunftsangst, Pessimismus und Endzeitstimmung gekennzeichnet. Diese Zeit, die auch als „Belle Époque“ bezeichnet wird, ist somit mit Umbruch und Traditionsverlust verbunden.
Dekadenzliteratur des Fin de Siècle
Die literarische Strömung der Dekadenz (von franz. „décadence“ = Verfall) entwickelt sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich, wo sie vor allem eine lyrische Bewegung bleibt. Dichter, wie Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Theophile Gauthier und Joris-Karl Huysmans, befassen sich mit der Verfallsthematik und versuchen, ihre verunsicherten Gefühle in ihrer Dichtung auszudrücken. Der literarische Stil fasst kurze Zeit später auch in anderen Ländern Fuß und findet etwa 1890 Eingang in die deutsche Literatur.
Die literarischen Motive in Bezug auf den Verfall des Individuums, der Kultur und der Gesellschaft stellen unter anderen Oberflächlichkeit, Ekel, Schwäche, Tod, Künstlichkeit, Schönheitskult, Außenseitertum, Isolation und Lebensferne, welche die Unfähigkeit, zu handeln, zur Folge haben, dar.
Ein wesentliches Merkmal der Dekadenz ist das Bewusstsein, in einer Endzeitepoche zu leben. Es handelt sich um eine melancholische Untergangsstimmung, die sich im deutschsprachigen Raum oft in den Werken von Thomas und Heinrich Mann, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Rainer Maria Rilke finden lässt. Die Dichter der Dekadenz besitzen kein genau definiertes Programm, aber der Kulturpessimismus durchzieht ihre Werke. Es ist manchmal schwer, die Züge der Dekadenz klar von den anderen Stilen, wie dem Impressionismus, Symbolismus und Ästhetizismus, abzugrenzen, da es in den Erzählungen häufig zu Überschneidungen zwischen diesen kommt.
Verfall und Ausbruch
Durch das Bewusstsein hinsichtlich der eigenen Dekadenz wird verdeutlicht, dass der Dichter Teil einer Gemeinschaft ist. Die Strömung der Dekadenz ist deshalb nicht nur als Endzeitgefühl nachzuvollziehen, sondern auch als Aufbruchswille. Das Fin de Siècle, das Ende des Jahrhunderts, ist nicht nur durch Kulturpessimismus, moralischen Verfall und Lebensüberdruss geprägt, sondern auch durch die Sehnsucht nach einem Neubeginn. Für etliche Schriftsteller markiert auch der Beginn des Ersten Weltkriegs das Ende einer Epoche und den Anfang von etwas Neuem und Ersehntem. Doch nach einigen Monaten blutigen und barbarischen Kriegs müssen die meisten ihre Meinungen revidieren.