Mignons Lied 'Kennst du das Land?'

Entstehung

Ursprünglich wird das Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? von der Figur Mignon im vierten Buch des Theaterromans Wilhelm Meisters theatralische Sendung des Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe vorgetragen. Der Roman, welcher fragmentarisch bleibt, wird zwischen 1777 und 1786 verfasst und wird erst 1911 posthum veröffentlicht. Da Goethe ab November des Jahres 1782 circa ein Jahr an dem vierten Buch arbeitet, ist das Gedicht, welches an dessen Anfang steht, sehr wahrscheinlich in einer Zeit entstanden, in der Goethe in Weimar als Geheimer Legationsrat arbeitet.

Nach seiner Reise nach Italien (1786–1788) wendet sich der Dichter zwischen 1794 und 1796 der Bearbeitung des Manuskripts zu, das als Urfassung für seinen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre dient. Dieser schildert die Entwicklung der Titelfigur vom Ausbruch aus den engen Verhältnissen seines wohlhabenden bürgerlichen Elternhauses bis hin zu einem eigenständigen, erfüllten Leben.

Der Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, welcher im Jahr 1796 veröffentlicht wird, enthält vier Lieder, die von der geheimnisvollen Figur Mignon vorgetragen werden: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?, Nur wer die Sehnsucht kennt, Heiss mich nicht reden und So lasst mich scheinen. Diese tragen keine Titel und sind an verschiedenen Stellen in den acht Büchern des Romans platziert.

Im Vergleich zu der Urfassung Wilhelm Meisters theatralische Sendung nimmt Goethe bei der Arbeit an Wilhelm Meisters Lehrjahren kleine Änderungen innerhalb der Liedtexte vor. Die Grundlage unserer Analyse bildet die Fassung des Liedes Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? aus dem Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, in dem es zu Beginn des ersten Kapitels des dritten Buches zu finden ist: „Eines Morgens hört Wilhelm Mignon singen: Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.“

Wer ist Mignon?

Der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre schildert die Entwicklung der Titelfigur vom Ausbruch aus den engen bürgerlichen Verhältnissen seines wohlhabenden Elternhauses bis hin zum Ende seiner Ausbildung, dem Erhalt des Lehrbriefs und der Heirat.

Der junge Kaufmannssohn Wilhelm Meister bricht zunächst aus seinem geborgenen Milieu aus, um in der Welt des Theaters die Möglichkeit zu suchen und zu finden, sich frei zu entfalten. Jedoch scheitert er nach beachtlichen Erfolgen und kehrt in das Elternhaus zurück, in dem er in der Folge den Beruf seines Vaters ergreift und Kaufmann wird. Eines Tages begibt sich Wilhelm auf eine Reise, um Schulden einzutreiben. Auf dem Rückweg begegnet ihm eine wandernde Artistengruppe, welche das Volk auf Marktplätzen unterhält.

Zu dieser Akrobatentruppe gehört das zwölf- oder dreizehnjährige Mädchen Mignon, das Wilhelm deshalb vom Anführer der Truppe für 30 Taler freikauft, weil Mignon nach ihrer Weigerung, den Eiertanz aufzuführen, misshandelt wird. Mignon ist „gut gebaut, ihre Gesichtsfarbe bräunlich“. Sie spricht nur wenig und nur gebrochen Deutsch, ist wissbegierig, musikalisch begabt und kann sehr gut tanzen und singen, was sie auch gern tut. Ihr Hauptkunststück ist der Eiertanz – ein Tanz, den sie inmitten von einigen Eiern, aufführt. Sie fasziniert Wilhelm aufgrund ihrer Andersartigkeit. Ihr Name klingt wie Französisch und ist die männliche Form des Adjektivs „mignon“. Passend dazu trägt Mignon überwiegend Jungenkleidung.

Das junge Mädchen verhält sich Wilhelm gegenüber unterwürfig und bietet sich ihm als Dienerin an. Allmählich entwickelt sie jedoch heimliche Gefühle für ihren Retter. Als Wilhelm sich später in eine andere Frau im Roman verliebt und Mignon ihn in ihren Armen entdeckt, bricht sie zusammen und stirbt auf der Stelle an gebrochenem Herzen.

Aufbau, Metrum und wichtige Stilmittel

Das Lied besteht aus drei identisch aufgebauten Strophen zu je sieben Versen. Dabei bilden die letzten drei Verse einer jeden Strophe den Refrain, der in allen drei Fällen leichte Abweichungen zeigt. Das verleiht dem Gedicht den Liedcharakter.

Jede der drei Strophen beginnt mit der gleichen Frage „Kennst du […]?“. Diese Wiederholung verbindet die drei in dem Gedicht entworfenen Bilder miteinander. Das erste Bild stellt eine Landschaft dar, das zweite ein prächtiges Haus mit Säulen und Marmorbildern und das dritte die gefährlichen Berge auf dem Weg dorthin. Die einzelnen Strophen zeichnen sich passend dazu durch unterschiedliche Stimmungen aus: Zunächst werden die Pracht und die Geborgenheit der ungestörten mediterranen Natur geschildert, in der zweiten Strophe herrscht eine friedliche und harmonische Stimmung, die sich in der dritten Strophe hin zu einer kontrastierenden bedrohlichen Atmosphäre wandelt, welche die genannten Gefahren unterstreicht.

Das Metrum des Gedichts ist überwiegend ein fünfhebiger Jambus. Allerdings beginnt jede Strophe mit einem Daktylus und auch die Verse fünf und sechs in jeder Strophe stellen einen zweihebigen Daktylus dar. Das Reimschema der Strophen ist aabb-cc, damit enthält jede Strophe drei Paarreime und eine Waise (fünfter Vers). Alle Verse haben eine männliche Kadenz, die eine große Auswirkung auf den Leserhythmus hat.

Analyse 

Der erste Teil der drei Strophen

Im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre hört Wilhelm Mignons Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? zum ersten Mal zufällig: „Mignon und der Alte [der Harfenspieler] hatten schon eine Weile in dem Nebenzimmer zur Harfe gesungen, endlich machte eine unbekannte Melodie unsern Freund aufmerksam, er horchte, Mignon sang.“ 

Inhaltlich scheint das Lied auf den ersten Blick die Sehnsucht des jungen Mädchens nach ihrer Heimat zu thematisieren. Denn Mignon verrät nicht, um welches besungene Land e...

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