Gesang der Geister über den Wassern

Einleitung

Im Jahr 1779 unternahm Johann Wolfgang von Goethe gemeinsam mit seinem acht Jahre jüngeren Dienstherrn, Herzog Karl August von Sachsen Weimar, seine zweite Reise in die Schweiz, die sich von September bis Januar 1780 erstreckte. In dem Zeitraum zwischen dem 9. und 11. Oktober hielt sich der Autor mit seiner Reisegesellschaft im Berner Oberland, und zwar im Gebiet um das Lauterbrunnental in der Nähe von Interlaken, auf. Dort besichtigte er auch den berühmten hohen Staubbachfall, einen natürlichen Wasserfall, der 300 Meter dunkle und senkrechte Felswände hinunterfällt und dabei eine neblige Gischt verursacht.

Der Dichter schrieb am 9. Oktober an seine Freundin und vermutliche Geliebte Charlotte von Stein: „[…] wir haben den Staubbach bei gutem Wetter zum ersten Mal gesehen und der blaue Himmel schien durch. An den Felswänden hingen Wolken, selbst das Haupt, wo der Staubbach herunterkommt, war leicht bedeckt. Es ist ein sehr erhabener Gegenstand.“[1].

Der Wasserfall hinterließ einen tiefen Eindruck bei dem Dichter und inspirierte ihn zu dem Gedicht „Gesang der lieblichen Geister in der Wüste“, welches er fünf Tage später am 14. Oktober Charlotte von Stein schickte. Die erste Fassung beinhaltete zahlreiche Abweichungen zu der heute bekannten Version des Gedichts, die erstmals unter dem Titel „Gesang der Geister über den Wassern“ im achten Band der gesammelten Schriften Goethes im Jahr 1789 publiziert wurde. Der Titel zeichnet sich durch eine mysteriöse Prägung aus und weist auf die lyrische Darstellung der Gedanken von übernatürlichen Wesen über das Element Wasser hin. Der Dichter scheint die Botschaft der Geister übermitteln zu wollen.

Form und Inhalt

Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit einer unterschiedlichen Verszahl: Die erste Strophe hat sieben Verse, die zweite zehn, die dritte und vierte Strophe haben jeweils fünf Verse und die letzten beiden Strophen vier. Es existieren kein regelmäßiges Metrum sowie auch kein festgelegtes Reimschema, daher kann in diesem Fall von freien Rhythmen gesprochen werden.

Strukturierend wirken jedoch zahlreiche rhetorische Stilmittel, die den Klang des Gedichts prägen. Zeilensprünge und Verben der Bewegung sowie eine gehäufte Verwendung des „Sch“-Lautes (strömen, stäuben, schäumen, schleichen) versinnbildlichen die Darstellung des fließenden Wassers.

Die Hauptthematik des Gedichts bildet zunächst der Vergleich der menschlichen Seele mit dem natürlichen Kreislauf des Wassers. Einen Nebenaspekt stellt der Vergleich des menschlichen Schicksals mit dem Wind dar. Auch philosophische Gedanken, die Goethe damals beschäftigten, wie die Reinkarnation und der Pantheismus, finden in den Strophen bildlich Erwähnung.

In der ersten Strophe wird der unendliche Kreislauf des Wassers beschrieben – das Wasser fällt auf die Erde als Schnee, Hagel oder Regen herab, steigt bei der Verdunstung als Dampf wieder auf und fällt, sobald sich genug Wasser gesammelt hat, erneut auf die Erde hinunter.  In der zweiten und dritten Strophe wird der Lauf des Wasserstrahls beschrieben, der, seine Hindernisse umgehend, wieder im Bachbett ankommt. In der vierten Strophe gelangt das Wasser aus dem Bachbett schließlich in einen See. Die fünfte Strophe thematisiert den Einfluss des Windes auf den Verlauf des Wassers, bevor die sechste Strophe schließlich ein Fazit zieht.

Insgesamt kann man das Gedicht jedoch in drei Teile untergliedern: Sinnspruch (erste Strophe) – Naturbeschreibung (zweite bis fünfte Strophe) – Sinnspruch (sechste Strophe). Die Sinnsprüche bilden den Rahmen um die Naturbeschreibung, der durch einen Chiasmus betont wird: „Des Menschen Seele“ – „Seele des Menschen“.

Das Gedicht ist damit ein Vertreter der Gedankenlyrik, die mit Paul Flemming im 17. Jahrhundert ihren Anfang nahm und als Gegenteil der Erlebnislyrik charakterisiert wird. Diese Form der Lyrik rückt keine Handlung oder kein Erleben in den Vordergrund, sondern die Reflexion eines Dichters über verschiedene Themen, die im Bereich der Philosophie, Religion oder auch Politik angesiedelt sein können.

Analyse und Interpretation

Erste Strophe

Die ersten beiden Verse der ersten Strophe sind durch ein Enjambement miteinander verbunden und verkünden gleich zu Beginn die wesentliche Botschaft der nachfolgenden Zeilen: „Des Menschen Seele/ Gleicht dem Wasser“...

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