Auf dem See
Einleitung
Im Winter 1774/1775 lernt Johann Wolfgang von Goethe in Frankfurt am Main Anna Elisabeth Schönemann kennen. Der Dichter verliebt sich in die neun Jahre jüngere Bankierstochter, und schon im April folgt die Verlobung. Doch Goethe fühlt sich bei dem Gedanken an die Heirat sowie die damit einhergehenden Zwänge, Verpflichtungen und Hindernisse unwohl. Er sehnt sich danach, frei und nur dem eigenen Willen unterworfen zu sein. Um der Situation für eine kurze Zeit zu entkommen, unternimmt er mit Freunden eine Reise in die Schweiz. Das Gedicht ist ein typisches Beispiel für die Zeit des Sturm und Drang, in der das Gefühl thematisch den Mittelpunkt der Lyrik ausmachte.
Goethe möchte für sich Klarheit schaffen und eine Entscheidung zwischen der Liebe und der Freiheit fällen. Seine Überlegungen werden in das Gedicht „Auf dem See“ einbezogen, welches der sechsundzwanzigjährige Dichter nach einer Kanufahrt auf dem Züricher See am 15. Juni 1775 in seinem Tagebuch notiert. Die zweite Fassung erarbeitet er für die Veröffentlichung im Jahr 1789. Das Gedicht erscheint demzufolge auf den ersten Blick wie ein Erlebnis- oder Naturgedicht. Doch ist in diesem außerdem eine tiefere Wahrheit inbegriffen.
Aufbau und Metrik
„Auf dem See“ besteht aus drei Strophen. Die erste und die dritte Strophe enthalten je acht Verse. Die zweite dagegen nur vier. Das Reimschema der ersten Strophe ist „ababcdcd“, es handelt sich hierbei folglich um Kreuzreime mit überwiegend männlichen Kadenzen. Das Metrum ist ein gleichmäßig wechselnder fünf- und vierhebiger Jambus. Dieser Rhythmus ähnelt dem Wellengang auf dem See und passt somit sehr gut zu der ersten Strophe, in der inhaltlich die Situation und die Umgebung geschildert werden.
In der zweiten Strophe ist der Wellengang bereits verschwunden. Hier werden die innigen Gedanken des lyrischen Ichs dargestellt. Die Verse sind in einem vierhebigen Trochäus verfasst. Das Reimschema der Strophe ist „eeff“. Der erste Paarreim endet mit einer weiblichen, der zweite mit einer männlichen Kadenz. In dritte Strophe übernimmt der Dichter das Metrum der zweiten Strophe. Die Verse sind in einem dreihebigen Trochäus verfasst. Das Reimschema ähnelt jedoch mehr der ersten Strophe, auch hier sind Kreuzreime verarbeitet: „ghghijij“. Die Kadenzen sind im Kontrast zur ersten Strophe überwiegend weiblich. Thematisch kehrt das lyrische Ich nun aus der Innenwelt zurück und schildert erneut die Umgebung.