Vor dem Tor

Die Szene „Vor dem Tor“ ist ein Teil der Gelehrtentragödie und folgt der Szene „Nacht“, in der die Klänge der Osterglocken Faust im letzten Augenblick aus seiner tiefen Verzweiflung gerettet haben. Die Dunkelheit, Unzufriedenheit und Enge der vorigen Szene machen nun der Helligkeit, neuem Lebensmut und der Weite Platz. Die Bürger der Stadt ziehen zur Feier des Ostersonntags aus den Toren hinaus.

Die Bürger der Stadt

Nacheinander werden die Bürger der verschiedensten sozialen Stände und Klientel vorgestellt: Handwerksburschen, Dienstmädchen, Bürgermädchen, Soldaten, Schüler und Bettler. Das Hauptgesprächsthema bei den Handwerksburschen und Dienstmädchen ist vor allem die Liebe zum anderen Geschlecht, über die sich angeregt und in derber Sprache untereinander ausgetauscht wird. Die Bürgermädchen beobachten missgünstig das Treiben zwischen den Handwerkern und den Dienstmädchen. Dass sich die „schönen Knaben“ (V. 832) mit den niederen Dienstmädchen zufriedengeben, missfällt ihnen sehr.

Als sich eine alte Frau den Bürgermädchen als Kupplerin anbietet, lehnen diese entrüstet ab: „Agathe, fort! Ich nehme mich in acht,/ Mit solchen Hexen öffentlich zu gehen; (...)“ (V. 876-877). Weder mit den unverheirateten Dienstmädchen noch mit einer Kupplerin wollen sie sich abgeben. Als Mädchen gehobeneren Standes wissen sie Bescheid um die gesellschaftliche Missachtung, die ihnen damit zuteilwürde. Damit wird schon hier auf das Schicksal Margaretes hingedeutet und mit der als „Hexe(n)“ (V. 877) bezeichneten Kupplerin auf die bevorstehende Walpurgisnacht. Auch die Figur des Mephistopheles, der ebenfalls als 'böser' Kuppler zwischen Faust und Margarete fungiert, ist damit bereits vorweggenommen.

Andeutung auf Margaretes Schicksal

Margaretes Schicksal, ihre Verführung und ihr Verlassenwerden werden auch mit dem darauf folgenden Soldatenlied angedeutet: „Das ist ein Stürmen!/ Das ist ein Leben! / Mädchen und Burgen/ Müssen sich geben./ Kühn ist das Mühen,/ Herrlich der Lohn!/ Und die Soldaten ziehen davon.“ (V. 895-902). Beide Ausrufe (V. 895-896) sind durch Parallelismus und Anapher miteinander verknüpft. Vers 899 und 900 stellen Inversionen dar, welche die Adjektive „kühn“ und „herrlich“ hervorheben. Der Vers 900 ist elliptisch: „Herrlich (ist) der Lohn“.

Das Lied verdeutlicht auch die Doppelmoral der patriarchalisch bestimmten Gesellschaft. Während die Männer die Frauen wie Burgen erobern dürfen, ist die weibliche Rolle dagegen passiv und ergeben. Im Vorausblick weist das Lied in diesem Zusammenhang eine eindeutige Parallele zu Margaretes Bruder Valentin auf: Als Soldat gleichen Schlages wird er Margaretes uneheliche Liebschaft zu Faust verurteilen und sie öffentlich dafür denunzieren.

Eine weitere Anspielung auf Margarete findet sich in dem Lied der Bauern, welche die unsanfte Begegnung zwischen Faust und Margarete vorwegnehmen: „Der Schäfer putze sich zum Tanz,/ Mit bunter Jacke, Band und Kranz,/ (…) Er drückte hastig sich heran,/ Da stieß er an ein Mädchen an/ Mit seinem Ellenbogen;/ Die frische Dirne kehrt' sich um/ Und sagte: Nun, das find' ich dumm! (…) Und tu mir doch nicht so vertraut!/ Wie mancher hat nicht seine Braut/ Belogen und betrogen!“ (V. 949-950/ 957-961/ 971-972).

Freude an der Natur

Faust tritt in diese Szenerie hinein mit einem gewaltigen Monolog, in dem er die durch den Frühling erwachte Natur begrüßt und preist: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/ Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;/ Im Tale grünet Hoffnungsglück;/ Der alte Winter in seiner Schwäche,/ Zeigt sich in rauhe Berge zurück.“ (V. 903-907). Symbolisch steht hier der Frühling für den Neubeginn nach der zuvor durchlittenen Verzweiflung der letzten Nacht.

Mit dem Gegensatz von Frühling und Winter wird die Grundproblematik der beiden Seelen, die in Fausts Brus...

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