Studierzimmer II
Introduktion
Der Szene „Studierzimmer II“ kommt eine zentrale Bedeutung in dem Drama zu, da hier die Wette zwischen Mephistopheles und Faust geschlossen wird. Sie ist ein Teil der Gelehrtentragödie (siehe dazu Interpretation „Die Gelehrtentragödie“).
Die vorangegangene Szene – „Studierzimmer I“ – weist mit der ersten Begegnung zwischen Faust und Mephistopheles bereits auf die Wette voraus. Die Geister singen Faust in den Schlaf, sodass dieser beim Erwachen glaubt, er habe im Traum den Teufel gesehen.
Nach dem trickreichen Verschwinden Mephistos ist Faust verwirrt. Sein Drang nach Höherem scheint besänftigt, das Befinden stabil, die Begründung dafür erschließt sich ihm jedoch nicht. Er fragt sich, ob es etwas mit dem Verschwinden des Pudels und dem Traum vom Teufel zu tun haben könnte. Diese Frage leitet die Wende ein– mit Mephisto verändert sich Fausts Leben vollständig.
Der erste Teil
Auftritt des Mephistopheles
Die Szene eröffnet der Auftritt des Mephistopheles. Der Teufel kehrt zurück in Fausts Studierzimmer als „edler Junker“ (V. 1535) und trägt ein „goldverbrämte[s] Kleid[...]“ (V. 1536) aus „starrer Seide“ (V. 1537). Er kommt direkt auf den von Faust in der vorangegangenen Szene vorgeschlagenen Pakt zu sprechen und verspricht dem Gelehrten, ihm zu zeigen, was „das Leben sei“ (V. 1543). Was Mephisto mit Faust vorhat, deutet bereits sein Degen an: „Mit einem langen, spitzen Degen,/ Und rate nun dir, kurz und gut,/ Dergleichen gleichfalls anzulegen“. Denn Mephisto darf als adliger Junker einen Degen tragen, was einfachen Bürgern untersagt war. Er rät Faust, es ihm nachzumachen und folglich die Standesgrenzen zu überschreiten, damit er das Leben frei von Begrenzungen erfahren kann.
Doch Faust bezweifelt, dass ein Pakt mit Mephisto ihn aus seiner Not retten kann, und drückt sein Dilemma zunächst mit einer Antithese und einer rhetorischen Frage aus: „In jedem Kleide werd ich wohl die Pein/ Des engen Erdelebens fühlen./ Ich bin zu alt, um nur zu spielen,/ Zu jung, um ohne Wunsch zu sein./ Was kann die Welt mir wohl gewähren? Entbehren sollst du! Sollst entbehren!“ (V. 1544-1548). Die nachfolgenden Alliteration und Kyklos unterstreichen seinen Zweifel daran, dass die Welt ihm noch schöne Erlebnisse zu bieten hat. Denn das ist das, was Faust kennt: Für seine Gelehrsamkeit musste er die Freuden des einfachen Daseins opfern und doch hat er kein Glück erlangen können.
Der Gelehrte klagt sein Leid. Er ist rastlos geplagt: „Nur mit Entsetzen wach ich morgens auf,/ Ich möchte bittre Tränen weinen,/ Den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf/ Nicht Einen Wunsch erfüllen wird, nicht Einen,/[...]“ (V. 1554-1557). Die Repetitio unterstreicht seine Unmut, die Verzweiflung über die rastlos dahinlaufenden Tage, die ihm keine Sekunde Glück gewähren.
Die alltäglichen Beschwerlichkeiten beschreibt Faust mit einem einprägsamen Parallelismus: „Der selbst die Ahnung jeder Lust/ Mit eigensinnigem Krittel mindert,/ Die Schöpfung meiner regen Brust/ Mit tausend Lebensfratzen hindert“ (V. 1558-1561). Die parallel aufgebauten Satzglieder sind durch Enjambements miteinander verbunden. Faust sagt damit aus, dass seine Tage voll mit kleinen Mäkeln („Krittel“) sind und sich überwiegend um alltägliche Banalitäten („Lebensfratzen“) drehen.
Selbst in der Nacht kommt Faust im Schlaf nicht zur Ruhe, da ihn „wilde Träume schrecken“ (V. 1565). Diese nächtliche Unruhe wird durch die doppelte Anapher „Auch-Mich-Auch-Mich“ betont (V. 1562-1565). Am Ende seines klagenden Monologs spricht Faust anhand einer Antonymie seine immer noch vorhandene Todessehnsucht direkt aus: „Und so ist mir das Dasein eine Last,/ Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst“ (V. 1570-1571).
Mit kurzen ironischen Spötteleien macht sich Mephistopheles über die Verzweiflung des Doktors lustig. Er will damit verdeutlichen, dass der Tod nicht Fausts Wunsch ist. Auf diese Weise stilisiert er sich selbst als die bessere Alternative zum Tod, als Lösung des Problems, um den Gelehrten für sich zu gewinnen. Zunächst kommt Mephisto auf Fausts nicht erfolgten Freitod zu sprechen: „Und doch ist nie der Tod ein ganz willkommner Gast“ (V. 1572). Der Teufel scheint dem Gelehrten in seinem Wissen immer einen Schritt voraus zu sein, wie er selbst anhand einer Correctio bestätigt: „Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewusst“ (V. 1582).
Für die Einflussnahme des Mephistopheles auf Faust ist das von entscheidender Bedeutung, da er auf diese Weise trickreich agieren und zu seinen Zielen gelangen kann, zum Beispiel in der Verkupplungsintrige um Margarete. Das Geschick des Mephistopheles äußert sich zudem in seiner Sprachgewandtheit und Rhetorik. Er ergänzt Fausts Gedanken und kommentiert sie manipulativ. Dafür verwendet er den Madrigalvers, der durch sein freies Metrum sprachliche Raffinessen erlaubt. Faust spricht dagegen im vierhebigen Knittelvers, der das Pathos seiner Aussage dann unterstützt, wenn er an die Trost spendende Musik des Osterchores zurückdenkt.
Der Fluch-Monolog
Doch selbst der Gedanke an die tröstenden Kindheitserinnerungen des Ostertages hält Faust nicht davon ab, in einem weitreichenden Monolog zahlreiche Facetten des irdischen Daseins zu verdammen. Der verzweifelte Gelehrte verflucht alle materiellen und ideellen Werte, die das menschliche Leben ausmachen: „So fluch ich allem was die Seele/ Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt,/ Und sie in diese Trauerhöhle/ Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!/ Verflucht voraus die hohe Meinung,/ Womit der Geist sich selbst umfängt!/ Verflucht das Blenden der Erscheinung,/ Die sich an unsre Sinne drängt!“ (V. 1587-1594). Zunächst auf materielle Werte ausgerichtet, bezieht er sich auf die Eitelkeit des Menschen, das Streben nach Macht, Reichtum, Ansehen. Damit verflucht er ebenso die Gesellschaft, die dieses Bestreben erst überhaupt sinnvoll erscheinen lässt.
Faust sagt sich mit diesem Fluch jedoch nicht nur von „Besitz, [...] Weib und Kind“ (V. 1597-1598) sowie von Ansehen und Macht los, sondern anschließend auch von Geduld, Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese sind die Tugenden eines Christen, wie sie in Korinther 13.13 in der Bibel vermittelt werden. Faust verweigert sich folglich den ideellen christlichen Werten und sagt sich von dem Gottesglauben los. Auf diese Weise ist er bereit für ein Bündnis mit dem Teufel.
Fausts Klagerede ist rhetorisch kunstvoll gestaltet. Das Wort „Verflucht“ oder „Fluch“ taucht elf Mal auf, was die Bedeutung der Verwünschung in starkem Maße hervorhebt. Die Schmährede des Gelehrten wird zum Ende immer dichter angeordnet, sodass der Monolog Spannung aufbaut und sich bis zu dem höchsten immateriell-geistigen Gut des Menschen in einer Emphase steigert.
Dabei umfasst jede Verfluchung zunächst zwei Verse, die mit der Anapher „Verflucht“ beginnen und einer Beschreibung des Fluches ausklingen. Die Verdichtung am Ende des Monologs wird dadurch geschaffen, dass fünf Flüche mit drei Anaphern und zwei Epanalepsen in nur vier Versen vereint werden. Darüber hinaus wird der Ausspruch „Verflucht“ zu „Fluch“ verkürzt.
Der Geisterchor
Auch der auf Fausts Monolog folgende Geisterchor besingt die Tragweite des ausgesprochenen Fluchs: „Weh! Weh!/ Du hast sie zerstört,/ Die schöne Welt,/ Mit mächtiger Faust;/ Sie stürzt, sie zerfällt!/ Ein Halbgott hat sie zerschlagen!/ Wir tragen/ Die Trümmern ins Nichts hinüber,/ Und klagen/ Über die verlorne Schöne/[...]“ (V. 1607-1616). Der Gesang drückt aus, dass Faust mit der bestehenden Welt abgeschlossen hat. Er zerstört die Welt nicht wirklich, jedoch zerstört er sie für sich selbst, indem er den Maßstäben und Werten der dominierenden Gesellschaft nicht mehr Folge leisten will, weil er ihren Unsinn durchschaut. Der Geisterchor bricht mit dem regelmäßigen jambischen Versmaß und bildet durch die bruchstückhaften ein- bis vierhebigen Verse auch sprachlich den Moment der Zerstörung, die Trümmer, nach.
Die Geister versuchen, dem Gelehrten neuen Lebensmut zu verleihen. Sie erkennen Fausts Lebenswillen, heben Faust in den Stand eines Halbgottes, der über die Macht verfügt, eine Welt zu zerstören, aber auch eine neue wieder aufzubauen: „Mächtiger/ Der Erdensöhne,/ Prächtiger/ Baue sie wieder auf!/ In deinem Busen baue sie auf! Neuen Lebenslauf/ Beginne,/ Mit hellem Sinne,/ Und neue Lieder/ Tönen darauf!“ (V. 1618-1626). Die Repetitio betont den Aufbruch zu etwas Neuem.
Der Geisterchor umschmeichelt Faust mit lobenden Worten. Wollte ihn der Erdgeist nicht anerkennen, so wird seine Macht hier betont und seine Herrlichkeit gelobt. Die Geister unterstützen damit die Position Mephistos. Die Geister machen Faust gefügig, raten ihm zu „Lust und Taten“ (V. 1629) So soll der Gelehrte seine alte Welt des Verstandes und der Wissenschaft verlassen, „wo Sinnen und Säfte stocken“ (V. 1633). Die Medizin der Goethezeit behauptete, dass die Krankheiten der Gelehrten durch die Anstrengung des Geistes und das viele Sitzen verursacht wurden, da dies zu einer Einengung des Blutkreislaufs führte und damit zu einem Stocken der Körperflüssigkeiten. Statt dieser soll Faust in die „Welt weit“ (V. 1631) hineintreten, wie die neue Alliteration es so schön betont.
Das Bündnis
Der Teufel bezieht Fausts Leid, mit dem er seiner gegenwärtigen Situation entgegenblickt und nutzt seine Gelegenheit, Faust einen Pakt vorzuschlagen: „Hör auf mit deinem Gram zu spielen,/ Der, wie ein Geier, dir am Leben frisst;/ Die schlechteste Gesellschaft lässt dich fühlen,/ Dass du ein Mensch mit Menschen bist./ Doch so ist’s nicht gemeint/ Dich unter das Pack zu stoßen.“ (V. 1635-1640). Diese durch eine Alliteration vereinten Verse lassen Mephistopheles verständnisvoll erscheinen.
Der Teufel vergleicht Fausts Qual an dieser Stelle mit dem griechischen Mythos des Prometheus, welchen Zeus deshalb bestrafte, weil dieser den Menschen das Feuer brachte, indem er ihn an einen Felsen band und von einem Geier täglich seine Leber fressen ließ, die jedoch ebenso täglich nachwuchs. Die Leber galt damals als der Sitz des Lebens. Mephisto möchte das Elend des Gelehrten beenden und schlägt als Lösung eine niedrigere Gesellschaft vor, damit Faust sich wie ein Mensch fühlt und nicht mehr nach dem Göttlichen strebt. Die Alliteration betont das Mensch-Sein, was eben auch bedeutet, nicht alles zu wissen und Fehler zu haben.
Mephistopheles versucht, Faust von einem Bündnis mit ihm zu überzeugen, damit dieser seinen lebensfeindlichen Gram hinter sich lässt: „So will ich mich gern bequemen,/ Dein zu sein, auf der St...