Straße 1

Einführung und Form

Die Szene „Straße“ ist der Beginn der Gretchen-Tragödie. Margarethe tritt in dieser Szene zum ersten Mal auf. Der Ausgang ihrer Geschichte wird bereits in ihrem Namen angedeutet, welcher an das traurige Schicksal der Frankfurter Dienstmagd Susanna Margaretha Brand anknüpft. Weil sie ihr neugeborenes Kind vorsätzlich tötete, wie sie später unter Druck gestand, wurde die 21-Jährige am 14. Januar 1772 in Frankfurt am Main hingerichtet. Ihr Fall dient als Vorbild für die tragische Geschichte Gretchens in Goethes Faust.

Die Szene „Straße“ ist eingefügt zwischen die Szenen „Hexenküche“, in der Faust sein verjüngtes Äußeres sowie seine Liebeslust erlangt, und „Abend“, einer Szene, in der Faust in das Zimmer Gretchens gelangt, vor Verlangen vergeht und ihr ein Geschenk hinterlässt.

Besonders der vorangehenden Szene wird in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung beigemessen. Mephisto beendet die „Hexenküche“-Szenerie mit den Worten: „Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen/ Nun bald leibhaftig vor dir sehn./ (Leise.) Du siehst mit diesem Trank im Leibe,/ Bald Helenen in jedem Weibe.“ (V. 2603-2604).

Damit wird einerseits klar, dass Mephisto einen Plan für Faust hat, aber auch andererseits, dass der Trank für Fausts Gefühle und Gelüste verantwortlich ist. Sein Verlangen nach Margarethe geht damit nicht aus reiner Liebe zu ihr und der Bewunderung ihrer Schönheit hervor, sondern hat die Sinnestrübung durch die Hexenmedizin zur Ursache.

Die Szene „Straße“ besteht aus zwei Teilen: Dem kurzen Gespräch zwischen Gretchen und Faust sowie Fausts Monolog darüber und dem langen Dialog zwischen Faust und Mephisto sowie dem diesbezüglichen kurzen Monolog Mephistos.

In der Szene dominieren Knittelverse. Es gibt nur wenige Abweichungen. Der vorherrschende Reim ist der Paarreim. Darüber hinaus werden in zwei Fällen ein umschließender Reim, ein Kreuzreim und mehrere Weisen verwendet.

Teil 1: Dialog zwischen Gretchen und Faust, Fausts Monolog (V. 2605-2608)

Den Anfang der Szene bildet Fausts Ansprache an Gretchen: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,/ Meinen Arm und Geleit Ihr Anzutragen?“ (V. 2605-2606). Der reiche Paarreim sowie die Anapher „Mein“ vereinen die Verse seiner Ansprache. Der Gelehrte  erkundigt sich bei der jungen Frau, ob er sie am Arm nach Hause führen darf. Die Ansprache mit dem Diminutiv „Fräulein“ fand damals Verwendung bei jungen, unverheirateten Frauen adliger Abstammung oder als respektvolle Ansprache der Dienerschaft. Faust wird hier die erste Variante der Ansprache im Sinn haben und dem jungen Fräulein schmeicheln wollen.

Die junge Frau antwortet darauf schlagfertig. In ihrer Antwortet greift sie auf die Wortwahl Fausts zurück und verneint diese: „Bin weder Fräulein, weder schön,/ Kann ungeleitet nach Hause gehen.“ (V. 2607-2608). Die Repetitio „weder“ verstärkt die Referenz Gretchens auf die Wortwahl Fausts. Sie ist kein Fräulein, da sie keiner Adelsfamilie angehört, auch die Schönheit spricht sie sich ab und verneint somit die Notwendigkeit eines Geleits.

In ihrer Schlagfertigkeit erscheint Margarethe taff, klug und desinteressiert. Die Regieanweisung verkündet zudem, dass Gretchen sich losmacht, was bedeuten muss, dass Faust ihr den Arm nicht nur anbietet, sondern sich bei ihr sogar einhängt, was unüblich ist und bei einem ersten Treffen das Überschreiten der Anstandsgrenze bedeutet. Gretchens Abweisung ist folglich die Reaktion eines wohlerzogenen und vorsichtigen jungen Mädchens.

Gretchens Antwort ist mit dem anschließenden Monolog Fausts durch einen Kreuzreim verbunden, auf diese Weise werden die Referenz des Monologs und dessen Abhängigkeit von der Reaktion der jungen Frau unterstrichen. Der identische Reim „schön“ stellt den Kontrast zwischen der Ansicht Gretchens, die sich selbst die Schönheit abspricht, und der Sichtweise Fausts, der von ihrer Schönheit angetan ist, dar.

Im ersten Vers seines kurzen Monologs bezeichnet Faust Margarethe als „Kind“, was seine Überlegenheit unterstreicht. Die Aussprache „Beim Himmel“ (V. 2609) scheint in dieser Situation fehl am Platz zu sein und wirkt beinahe ironisch, ist doch für das Gefühl Fausts der Teufel und nicht der Himmel verantwortlich.

Der zweite Vers ist mit dem nachfolgenden Paarreim durch eine Alliteration verbunden: „So etwas hab ich nie gesehn./ Sie ist so sitt- und tugendreich,/ Und etwas schnippisch doch zugleich.“ (V. 2610-2612). Faust behauptet, noch nie ein so schönes Mädchen gesehen zu haben, haben ihn die Frauen doch zuvor auch nicht sonderlich interessiert. Hier ist der Interessenwechsel zu verzeichnen, den Mephisto seinem Schützling nach der Einnahme des Tranks in der Szene „Hexenküche“ versprochen hat: „Den edlen Müßiggang lehr ich hernach dich schätzen,/ Und bald empfindest du mit innigem Ergetzen,/ Wie sich Cupido regt und hin und wider springt.“ (V. 2596-2598).

Das tritt nun ein und Faust entdeckt den Blick für das, was er deshalb vorher niemals gesehen hat, da sein Interesse ausschließlich der Wissenschaft galt. Schließlich macht Faust den Kontrast zwischen „sitt- und tugendhaft“ sowie „schnippisch“ anhand eins Polysyndetons deutlich. Dem Mann gefällt, dass die Frau beides in sich vereint: Tugend und Verstand, das Gesittete und das Schlagfertige.

Schließlich kommt er im nächsten reichen Paarreim zu ihrem Äußeren: „Der Lippe Rot, der Wange Licht,/ Die Tage der Welt vergess ich’s nicht.“ (V. 2613-2614). Die beiden Verse vereint eine Alliteration, der erste Vers bildet einen Parallelismus, und verleiht der Beschreibung Kürze und Eindringlichkeit. Faust behauptet, das schöne Äußere der Frau nie wieder vergessen zu können.

Die...

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