Nacht

Erster Abschnitt (V. 354-459)

Die Erkenntniskrise

Mit der Szene „Nacht“ beginnt die Gelehrtentragödie, die mit einem gewaltigen Monolog Fausts eröffnet wird: “Habe nun, ach! Philosophie,/ Juristerei und Medizin,/ Und leider auch Theologie!/ Durchaus studiert, mit heißem Bemühn./ Da steh' ich nun, ich armer Tor,/ Und bin so klug als wie zuvor!“ (V. 354-359). In seinem Eingangsmonolog zieht Faust eine Bilanz seines Lebens mit einem niederschmetternden Resultat: Obwohl er als Universalgelehrter die vier wissenschaftlichen Hauptdisziplinen Philosophie, Jura, Medizin und Theologie studiert hat, befindet er sich in einer tiefen Erkenntniskrise. Seine gesamten wissenschaftlichen Studien haben es ihm nicht ermöglicht, zu erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält, (...)“ (V. 383).

Trotz seiner umfangreichen Bildung weiß Faust, dass er im Grunde nichts weiß: “Bilde mir nicht ein, was rechts zu wissen,/ Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,/ Die Menschen zu besser und zu bekehren“ (V. 371-373). Er hält damit das gesamte wissenschaftliche System als 'Mittel' der Erkenntnisgewinnung für per se ungeeignet. Die grundlegende Frage, die sich Faust stellt, geht über den rein wissenschaftlichen Erkenntniswillen hinaus. Faust möchte vielmehr eine ganzheitliche, transzendente Erkenntnis über das Dasein erlangen.

Symbolik des Raums und der Zeit: Begrenztheit der Wissenschaft

In der Wissenschaft sieht Faust kein Fortkommen, keine Neuerung mehr. Bereits der äußere Raum der Szene spiegelt dieses Motiv wider. Faust befindet sich in seinem Studierzimmer. Es ist ein „hochgewölbte(s), enge(s) gotische(s) Zimmer“ (erste Szenenanweisung), das Faust als Kerker empfindet, ein „Verfluchtes dumpfes Mauerloch“ (V. 399). Es ist angehäuft mit Wissen, ein „Bücherhauf,/ Den Würmer nagen, Staub bedeckt,/ Den, bis ans hohe Gewölb' hinauf,/ Ein angeraucht Papier umsteckt;/ (...)“ (V. 402-405), Die Reproduktion bereits von angehäuftem Wissen stellt für Faust keine Möglichkeit dar. Das Bild seines Zimmers, mit längst verstaubten „Urväter-Hausrat vollgestopft“ (V. 408), verdeutlicht dies.

Vielmehr ist das tradierte Wissen der Einzeldisziplinen ein Hindernis darauf, um Neues zu entdecken. Der hochgewölbte Raum lenkt den Blick zwar automatisch nach oben gen Himmel und symbolisiert damit Fausts Suche nach Höherem, doch ist er „mit Instrumenten vollgepfropft “ (V. 407). Es ist ein Ort, an dem selbst das Tageslicht nur „trüb durch gemalte Scheiben bricht.“ (V. 401) Enge und das Gefühl des Eingesperrtseins bestimmen den Raum, in dem sich Faust befindet, und spiegeln gleichzeitig sein Inneres wider.

Wie der Raum, so ist auch die Zeitlichkeit der Szene symbolisch zu lesen. Es ist Nacht, eine Zeit der Dunkelheit, in der man nahezu nichts sehen kann. Damit lässt sich auch hier das Motiv des eingeschränkten Sehens und Erkennens wiederfinden. Gleichzeitig steht die Dunkelheit der Nacht für Fausts Empfindung der Verzweiflung und Ratlosigkeit. Ruhm und Anerkennung bringen ihm keine Zufriedenheit, ihm ist „alle Freud' entrissen“ (V. 370).

Unbegrenzte Weite der Natur

Sein Wunsch, aus den Schranken der Wissenschaft auszubrechen, spiegelt sich in den Attributen der lebendigen und unendlichen Natur wider, die im Kontrast zu der Enge und Leblosigkeit und 'Kerkerhaft' seines wissenschaftlichen Daseins stehen. Sie spiegeln das Bedürfnis nach Weite, Licht, Wärme und Lebendigkeit wider. So hat Faust seine Studien „mit heißem Bemühn“ (V. 357) betrieben, sehnt sich danach, „auf Bergeshöhn“ (V. 392) im „lieben Lichte“ (V. 393) des Mondes, seinem einzigen Begleiter, zu wandeln. „Statt der lebendigen Natur (…) umgibt ihm „Rauch und Moder nur “ (V. 414/416). Die Alliteration „Tiergeripp' und Totenbein“ (V. 417) ergänzt die Todesmetaphorik. Die Natur als Raum der sinnlichen Erfahrung und der Lebendigkeit ist ein Leitmotiv in der Tragödie, die für Fausts Suche und Wunsch steht, sein sinnliches Defizit auszugleichen.

Erster Versuch der Befreiung:

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