Am Brunnen

Einführung und Form

Die Szene „Am Brunnen“ ist ein Bestandteil der Gretchen-Tragödie. Diese macht deutlich, dass Gretchen und Faust den Beischlaf vollzogen haben, weist auf den Fall Gretchens voraus und kennzeichnet die Änderung ihrer vorherigen Denkweise: Hat Gretchen zuvor noch junge Frauen verurteilt, die sich vor der Ehe einem Mann hingaben, so empfindet sie nun Mitleid mit diesen, da sie nunmehr selbst betroffen ist und die Beweggründe der Frauen besser nachvollziehen kann.

Die Szene ist eingebettet zwischen den Szenen „Marthens Garten“, in der Faust und Gretchen sich für die Nacht verabreden, und „Zwinger“, einer Szene, in der Gretchen zu der Mater dolorosa betet und ihr Leid zum Ausdruck bringt, welches in der Szene „Am Brunnen“ bereits angekündigt wird.

„Am Brunnen“ besteht aus zwei Teilen: Zum einen einem Gespräch zwischen Gretchen und Lieschen sowie zum anderen dem Monolog Gretchens auf dem Nachhauseweg. Die Hauptthematik ist dabei der Fall einer jungen Frau, die sich von einem Mann umwerben lässt, mit diesem schläft und schließlich, von ihm verlassen, mit einem Kind zurückbleibt.

Das Motiv wird durch die kontrastierenden Sichtweisen Gretchens und Lieschens von zwei Seiten her beleuchtet. Während die eine Verachtung äußert, bringt die andere der Gefallenen Mitleid und Verständnis entgegen. Die Deminutiv-Form der drei Vornamen, Bärbelchen, Lieschen und Gretchen, suggeriert, dass es sich bei den beiden sprechenden Frauen sowie der besprochenen Person um sehr junge und naive Geschöpfe handelt.

In der Szene kommen Madrigalverse in Form der Lang- und Kurzverse sowie Knittelverse vor. Es dominiert der Paarreim. Auch umarmender Reim wird verwendet.

Teil 1: Dialog zwischen Lieschen und Gretchen

Lieschens Tratsch (V. 3544 – 3550)

Die Einleitung in das Geschehen bilden die ersten sechs Gesprächspassagen, die einen umarmenden Reim mit anschließenden zwei Weisen bilden und mit einem Paarreim sowie einer weiteren Weise schließen. Die Reime sind ausschließlich reich.

Lieschen eröffnet das Gespräch mit der Frage „Hast nichts von Bärbelchen gehört?“ (V. 3544). Diese Formulierung weist bereits auf den nachfolgenden Tratsch voraus und suggeriert die Lust der jungen Frau, sich über das Schicksal Bärbelchens auszutauschen. Die Antwort Gretchens zeigt kein Interesse. Sie scheint nicht am Tratschen interessiert zu sein. Sie fragt nicht nach, antwortet sehr kurz und bündig: „Kein Wort“. Sie begründet ihre Unwissenheit mit dem Satz: „Ich komm gar wenig unter Leute.“ (V. 3545).

Lieschen antwortet auf Gretchens Erklärung nur mit einem bestätigenden kurzen „Gewiß“ und setzt den Tratsch fort, indem sie verkündet: „Sibylle sagt‘ mir’s heute! Die hat sich endlich auch betört. Das ist das Vornehmtun!“ (V. 3547- 3548). Durch den Verweis auf eine weitere Person, von der Lieschen die Information erhalten hat, entsteht die typische Situation in einer kleinen Dorf- oder Stadtgemeinschaft, in der jeder jeden kennt und jeder über jeden redet. So verbreitet sich sehr rasch die Nachricht von Mund zu Mund, dass Bärbelchen sich hat verführen lassen.

Lieschen erklärt Bärbelchens Verhalten mit ihrer Art und Weise, sich zu benehmen, was sie als „Vornehmtun“ definiert. Junge Frauen aus bürgerlichem sowie Handwerksmilieu gaben sich damals häufig die Mühe, hofähnlich zu agieren, sich nahe der höfischen Mode zu kleiden und höfische Sitten an den Tag zu legen, um wohlhabende Kavaliere für sich zu begeistern und zu gewinnen. Diese Verhaltensweise kritisiert Lieschen an Bärbelchen und vermutet, dass genau dieses höfische Agieren zu der Verführung des jungen Mädchens beigetragen hat.

Die Verknüpfung zwischen der Verführung und dem „Vornehmtun“ erfolgt ebenso durch die Alliteration „Die“ - „Das“, welche die b...

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