Gretchens Wahnsinn
Zu Beginn der Gretchentragödie, die sich von der Szene „Straße“ bis zur Szene „Kerker“ erstreckt, ist Margarete eine taffe junge Frau. Als Faust sie auf der Straße anspricht, antwortet sie keck und selbstbewusst, ohne irgendein Interesse an dem von der Hexe verjüngten Gelehrten zu zeigen. Dies Verhalten hat mit der christlichen Erziehung Gretchens zu tun, die von der Mutter nicht nur zu einer gläubigen Katholikin, sondern auch zu einem fleißigen, arbeitsamen und geselligen Mitglied der Gesellschaft erzogen wurde. Gretchen kennt die zeitgenössischen bürgerlichen Werte sowie die gesellschaftlichen und moralischen Konventionen, daher entspricht ihr Verhalten diesen Werten. Sie weiß, was sich für ein junges Mädchen gehört.
In der Szene „Straße“ ist Gretchens Welt noch intakt, doch beginnt sie bereits bei der ersten Begegnung mit Faust zu wanken. Nach und nach brechen dann die Menschen und Umstände, die Gretchen einst Sicherheit und Zuversicht vermittelt haben, weg. Die dramatische Entwicklung ihrer Beziehung zu Faust, welche auch die Tode ihrer Mutter und ihres Bruders zur Folge hat, treibt Gretchen in den Wahnsinn. Um diesen Prozess und die äußeren Merkmale des Wahnsinns besser nachvollziehen zu können, ist es unerlässlich, die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Gretchen und Faust anhand der relevanten Szenen nachzuverfolgen.
„Abend“ und „Spaziergang“
In der Szene „Abend“ kann man beobachten, wie in Gretchen die Begierden erwachen. Zum einen reizt es sie, zu wissen, wer der Mann auf der Straße gewesen ist (V. 2678-2683). Die Aufmerksamkeit, die ihr von Faust zuteilwurde, entfacht in ihr das Interesse an dem anderen Geschlecht. Zum anderen verführt das kostbare Geschmeide, das Faust und Mephisto in ihrem Schrein als Geschenk hinterlassen haben, die junge Frau zum Träumen. Gretchen sehnt sich nach mehr Vermögen. Sie äußert Unzufriedenheit und stellt fest, dass Schönheit allein nicht ausreichend ist: „Nach Golde drängt,/ Am Golde hängt/ Doch Alles. Ach wir Armen!“ (V. 2882ff.).
In diesem Zusammenhang wird das Werk des Teufels deutlich. Gretchen wendet sich in ihren Gedanken und Gefühlen den irdischen Vergnügungen zu. Sie sehnt sich nach dem Mann, den sie als wohlhabend einstuft, wünscht sich mehr Vermögen und mehr teure Dinge, die ihre Schönheit unterstreichen können. Zudem ist sie mit ihrer Situation und ihrem Stand unzufrieden. Eine Lösung für diese negativen Gefühle sucht Gretchen weder bei der Mutter noch in der Kirche. Sie bleibt in ihnen verhaftet.
In der Szene „Spaziergang“ erfährt man schließlich, dass die Mutter Margaretes, den teuflischen Ursprung des Schmucks vermutend, diesen der Kirche gespendet hat. Während also die alte Frau weiterhin ihre Antworten in der Religion sucht, gerät die junge Frau immer mehr in die Fänge Mephistos. Margarete ist „nun unruhvoll,/ Weiß weder was sie will noch soll,/ Denkt ans Geschmeide Tag und Nacht,/ Noch mehr an den der’s ihr gebracht.“ (V. 2849-2852).
Dem Teufel ist es folglich gelungen, die Gedankenwelt der christlichen und gut erzogenen jungen Frau langfristig mit Begierden und Sehnsüchten zu füllen. Dass er Gretchen verführt und auf den falschen Weg lenkt, soll an dieser Stelle allerdings nicht die Schuldfrage klären, denn es darf nicht vergessen werden, dass die Handlungen des Teufels stets auf Befehl des Gelehrten erfolgen und diesem Befehl einmal mehr und einmal weniger entsprechen.
„Der Nachbarin Haus“ und „Straße“
In der Szene „Der Nachbarin Haus“ erfährt man, dass Gretchen einen neuen Schmuck geschenkt bekommen hat. Die junge Frau freut sich über das Geschmeide, das ihrem Stand nicht entspricht. Daher bringt Gretchen den Sch...