Die Gelehrtentragödie
Einleitung
Johann Wolfgang Goethes „Faust. Der Tragödie erster Teil“ von 1808 lässt sich in zwei Handlungsstränge einteilen: Die Gelehrtentragödie sowie die Gretchentragödie.
Im Gegensatz zu der Gretchentragödie, welche den tragischen Fall der jungen Margarethe schildert, die von Faust verführt wird, ihre Mutter tötet, den Tod ihres Bruders mitverschuldet, schließlich ein Kind bekommt, dieses umbringt und dem Wahnsinn verfällt, jedoch von Gott aufgrund ihrer Reue und guten Gesinnung errettet wird, konzentriert sich die Gelehrtentragödie ausschließlich auf der Figur des Doktor Heinrich Faust.
Die Gelehrtentragödie befasst sich mit Fausts Suche nach Erkenntnis, bei der er trotz des Pakts mit dem Teufel scheitert. Sie bildet die Grundlage der Gretchentragödie und geht dieser voraus, erstreckt sich daher im Wesentlichen auf die ersten sechs Szenen des Dramentextes: Nacht, vor dem Tor, Studierzimmer I und II, Auerbachs Keller in Leipzig und Hexenküche (V. 354-2604).
Nacht (Verse 354-807)
Faust ist ein Gelehrter, der in vielen Disziplinen bewandert ist: „Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie! / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor […] / Und sehe, dass wir nichts wissen können.“ Dennoch kann er in keiner Wissenschaft das finden, nach dem er sucht, nach der wahren Erkenntnis in Bezug auf das, „was die Welt/ Im Innersten zusammenhält.“ (V. 354-359).
Doktor Faust hat das Gefühl, je mehr er lernt und forscht, desto weniger kann er seinen Durst nach Erkenntnis stillen. Die Erkenntnis raubt ihm den Schlaf und macht ihn sehr unzufrieden: „Bilde mir nicht ein was Rechts zu wissen, / Bilde mir nicht ein ich könnte was lehren / Die Menschen zu bessern und zu bekehren. / Auch hab ich weder Gut noch Geld, / noch Ehr und Herrlichkeit der Welt; / Es möchte kein Hund so länger leben!“ (V. 371-376).
Folglich muss eine Veränderung eintreten: Faust wendet sich von der akademischen Gelehrsamkeit ab und erhofft sich, in der Magie die Antworten auf seine Fragen zu finden: „Drum hab ich mich der Magie ergeben“ (V. 377).
Bei Aufschlagen eines geheimnisvollen Buches von „Nostradamus‘ eigner Hand“ (V. 420) erblickt er das Zeichen des Makrokosmos (des Universums), was ihn mit Glück und Hoffnung erfüllt: „Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!“ (V. 439). Das Zeichen ist eine...