Zwischen Sturm und Drang, Klassik und Romantik

Goethe schrieb an seiner Faust-Dichtung über sechzig Jahre, und zwar von 1772-1832. Die endgültige Fassung des „Faust I“ wurde 1808 veröffentlicht. Damit fällt die Entstehung des Werkes in die Zeit der literaturgeschichtlichen Epochen der Aufklärung (1720-1785), des Sturm und Drangs (1767-1785), der Klassik (1786-1805) und der Romantik (1795-1835). Schon aufgrund dieser langen Entstehungsgeschichte lassen sich im „Faust I“ Einflüsse verschiedener literarischer Strömungen erkennen. Diese zeigen sich sowohl in der inhaltlichen Konzeption der Motive, Themenkreise und Figurencharakteristiken als auch in der formalen Gestaltung des Werkes.

Einflüsse des Sturm und Drangs

In Goethes „Faust I“ sind die Merkmale des Sturm und Drangs neben denen der Klassik am stärksten ausgeprägt.

Der Sturm und Drang bezeichnet eine literarische Strömung, die sich während der Zeit der Aufklärung herausbildet. Neben Goethe und Schiller setzen weitere junge Autoren diese Bewegung in Gang, die sich gegen das rationalistische, vernunftgelenkte Denken richtet. Diesem setzen sie die Idee eines leidenschaftlich fühlenden Individuums entgegen, das mit allen gesellschaftlichen Regeln bricht und sich damit bewusst in ein Außenseitertum begibt.

Im Mittelpunkt steht der empfindende Mensch, der versucht, mit der Unendlichkeit eins zu werden, und sich dabei in die Gefahr begibt, sich selbst zu verlieren. Der Mensch versucht, die Grenzen des menschlichen Daseins zu überschreiten, um sich gottgleich über diese zu erheben. Dieser immer unzufriedene, melancholische Mensch trägt Züge eines Genies, das aus eigener Kraft etwas Neues schöpfen will. Dieser Subjektivismus kennzeichnet auch die Bewegung der Romantik, die an die Ideale der Sturm-und-Drang-Zeit anknüpft. Die antike mythische Gestalt des Prometheus diente hier als Vorbild.

Goethe konzipierte mit seiner Hauptfigur Faust einen solchen Prometheus der Neuzeit.
Mit seinem ewigen Drang, die Grenzen seiner wissenschaftlichen Studien zu überschreiten, sucht er gleichzeitig nach göttlicher Erkenntnis. Er ist ein „Ausnahmegelehrter“, ein Genie, das sich einerseits göttlich erhaben fühlt, aber andererseits vor Verzweiflung in eine tiefe Melancholie verfällt.

Faust stellt sich selbst, sein Gefühl und seine Befriedigung in den Mittelpunkt seines Handelns. Dass er damit Margarete und weitere Menschen opfert, ist ihm nicht wichtig. Allein aus seinem subjektiven Erleben schafft er seine eigenen Regeln außerhalb der gesellschaftlichen und religiösen Normen.

Eine weitere Idee des Sturm und Drangs ist die aus der Aufklärung stammende Vorstellung, das Göttliche in den Erscheinungen der Natur zu erblicken. Dieser sog. Pantheismus ist mit der Abkehr von der christlich-religiösen Vorstellung eines Gottes verknüpft. Für die Charakteristik Fausts ist dieses Ideal grundlegend. Faust ist kein praktizierender Gläubiger, sondern er sucht eine Verbindung zu Natur und Kosmos, wie etwa in der Szene „Wald und Höhle“ deutlich wird.

Mit der Lossagung von allen gesellschaftlichen Regeln zeigt die Bewegung des Sturm und Drangs auch eine sozialkritische Haltung. Diese lässt sich in der „Gretchentragödie“ ablesen, die in der Form des bürgerlichen Trauerspiels gestaltet ist. Gretchen wird nicht nur durch Faust in den Tod getrieben, sondern auch durch die gesellschaftlichen Zwänge und Schuldzuweisungen. Ihre nicht standesgemäße, uneheliche Liebe zu Faust wird von der Gesellschaft nicht geduldet. Die gesellschaftliche und kirchliche Stigmatisierung veranlasst und treibt Margarete schließlich aus Verzweiflung zu der Kindstötung.

Ebenso ist die Stände übergreifende Liebe zwischen Faust und Margarete, die aufgrund gesellschaftlicher Doktrinen scheitert, sozialkritisch zu lesen. Vor diesem Hintergrund hat „Faust I“ auch aufklärerische Züge. Der unbedingte Drang nach Erkenntnis, der Faust antreibt, ist am eindeutigsten den Idealen der Aufklärung zuzuordnen.

Auch formal ist Goethes „Faust I“ durch Bauformen des Sturm und Drangs gekennzeichnet. Der Grund hierfür liegt darin, dass Goethe weite Teile aus seinem „Urfaust“ übernommen hat. Die strukturelle Ausgestaltung der Tragödie weist weder eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung noch eine sprachliche Einheitlichkeit auf. Stattdessen gibt es viele verschiedene Szenenorte und keine eindeutige Zeitangabe. Damit wird mit den Regeln der klassizistischen Poetik, etwa des Fünf-Akte-Schemas, gebrochen und eine Offenheit im Sinne der shakespeareschen Dichtung erreicht.

Die Vielzahl an Repräsentanten unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten zeigt sich auch in der vielfältig verwendeten Sprache. Der formale Regelverstoß des Sturm und Drangs bedeutet auch einen freieren Umgang mit der Sprache. So lassen sich in Faust zahlreiche Passagen eines eher ordinären Sprachgebrauchs finden: Bei den Zechkumpanen in „Auerbachs Keller“, den Hexen und Tieren und in weiten Teilen die Sprache von Mephistopheles. Aber auch Faust bedient sich dieser ruppigen Sprache, zum Beispiel dann, wenn er Mephistopheles mit „Spottgeburt von Dreck und Feuer!“, (Z. 3536, S. 108), „Pfui über dich!“, (Z. 3293, S. 101) beschimpft. Und sogar Margarete spricht in ihrer Verzweiflung im Kerker von ihrer Mutter „die Hur“, (Z. 4413, S. 130).

Die Einführung des Prosastils ist ebenfalls eine Charakteristik des Sturm und Drangs. Dieser dient vor allem dazu, die Emotionalität der Figuren auszudrücken. Die Szene „Trüber Tag-Feld“ ist die einzige, die in diesem Stil verfasst ist, und sie beschreibt eindrücklich Fausts Verzweiflung, als er erkennt, dass er für Margaretes Schicksal verantwortlich ist. Fausts innere Erregung und Wut werden durch diesen freien, fließenden und ungeordneten Stil besonders deutlich, der bewusst mit dem konventionellen klassischen Versmaß bricht.

Der von Goethe eingesetzte Knittelvers ist ein weiteres typisches Merkmal der Sturm-und-Drang-Bewegung. Dieser aus dem 15. bis 17. Jahrhundert stammende, altertümliche Reimvers ist im „Faust I“ stark vertreten und findet sich beispielsweise in Teilen des Monologs von Faust in der Szene „Nacht“. Das etwas schwerfällig wirkende Versmaß vermittelt hier besonders eindrücklich das innere Ungleichgewicht und die Unzufriedenheit Fausts.

Einflüsse der Klassik

Goethe selbst ist ein Hauptvertreter der (Weimarer) Klassik. Die „Italienische Reise“ (1786-1788) und seine Rezeption des Kunstwissenschaftlers und Archäologen Johann Joachim Winckelmann beeinflussten...

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