Analyse des Briefes vom 10. Mai 1771
Der zweite Brief, den Werther an seinen Freund Wilhelm schreibt, stammt vom 10. Mai 1771 (S. 7-8). Werther hat Anfang des Monats seine Heimatstadt verlassen und lebt nun in Wahlheim. Noch bevor er dort Lotte kennenlernen wird, erlebt er einige unbeschwerte Tage, in denen ihn besonders die Natur der Umgebung fasziniert. Davon handelt dieser Brief.
Schon im ersten Satz vergleicht Werther die „wunderbare Heiterkeit“ (S. 7), die seine Seele erfülle, mit einem Frühlingsmorgen. Der Vergleich mit dieser Jahreszeit verdeutlicht, dass nun ein neuer Abschnitt in seinem Leben beginnt, an dessen Anfang er steht. Es beglückt ihn auch, dass er diesen Zustand „allein“ (S. 7) erleben darf.
Der Text zeigt durch die vielen Personalpronomen der 1. Person Singular eine starke Fixierung auf ihn selbst. Er glaubt, dass diese Gegend genau seinem Seelenempfinden entspreche. Dennoch scheint dieses starke Empfinden in Bezug auf seine Kunst eher kontraproduktiv zu sein. Denn, obwohl ihn seine Wahrnehmung zu großer künstlerischer Produktion anregt, fällt ihm die Umsetzung aufgrund seines fast schon meditativen Zustands nicht leicht: „Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin nie ein größerer Maler gewesen“, (S. 7).
Seine Naturbeschreibung trägt starke pantheistische Züge und verwendet biblisches Vokabular. Er spricht vom „innere[n] Heiligtum“ und der „Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach...