Der Einzelne und die Gesellschaft
Normen und Regeln
In der Novelle „Die Marquise von O...“ lassen sich einige Anspielungen auf die Thematik des Individuums im Verhältnis zur Gesellschaft finden. Wie bereits im Abschnitt Emanzipation angedeutet wurde, haben wir es bei der Titelheldin mit einer Figur zu tun, die versucht, sich streckenweise in ihrer Rolle als Frau und von ihrer Familie zu emanzipieren. Gesellschaftliche Normen bestimmen ihr Verhalten sehr stark mit – und nicht nur ihres, auch die anderen Figuren sind in ihrer Lebensweise, ihren Ansichten und Handlungen stark durch die Gesellschaft, in der sie leben, geprägt.
Bei der Familie der Marquise von O... handelt es sich um ihre Eltern, den Obristen und die Obristin von G..., ihren Bruder, den Forstmeister von G... und ihre beiden Töchter. Es handelt sich um eine italienische Adelsfamilie und auch der Graf F... ist ein Adliger. Damit unterscheiden sich die gesellschaftlichen Strukturen, in welche diese Familie eingebunden ist, von denen anderer Menschen aus anderen Ständen.
Die „Familienrücksichten“(S. 3), auf welche die Marquise gezwungen ist, achtzugeben, will sie nicht die Ehre verletzen, werden bereits im ersten Satz der Novelle erwähnt. Familienrücksichten bedeuten hier, die soziale Ächtung, die staatlichen und kirchlichen Sanktionen, welche zu den Zeiten, in denen die Novelle spielt, die Konsequenzen einer unehelichen Schwangerschaft waren (Nachwort: S. 69), insbesondere von der Familie abzuwenden. Die Ächtung und die Strafen galten für alle Frauen, doch im Falle einer Adelsfamilie wäre der Sturz von der gesellschaftlichen Leiter natürlich besonders hart gewesen.
Es wird also darauf hingewiesen, dass die Marquise aus Rücksicht auf ihre Familie zur Heirat entschlossen sei – nicht, weil es ihr eigener, eigenständiger Wille ist. Selbstverständlich ist es eine philosophische, schwer beantwortbare Frage, wo der ureigene Wille aufhört und der Wille, der sich aus der Rücksicht auf Andere ergibt, beginnt. Doch im Falle der Marquise ist es recht eindeutig, dass sie ihre Handlungen auf den Bedürfnissen ihrer Familienangehörigen – der Eltern und des Bruders, basiert und ihren eigenen Willen hintanstellt.
Die Gesellschaft, in welcher die Marquise lebt, ist voll von strengen Regeln, insbesondere für junge, unverheiratete Frauen. Und ein Fehltritt wird nicht verziehen. Die Marquise fühlt sich gezwungen, eine ungewöhnliche Annonce in die Zeitungen zu setzen, mit deren Hilfe sie den Erzeuger ihres ungeborenen Kindes finden will. Dies wird als ein „den Spott der Welt reizenden Schritt“ (S. 3) bezeichnet. Selbst ihr Versuch, den Schaden abzuwenden, ist also für ihren Ruf bereits schädlich und sie muss dafür mit Hohn rechnen.
Es ist außerdem ein gegebenes Gesetz in dieser Gesellschaft, dass Ehen zwischen solchen Menschen geschlossen werden, die dem gleichen Stand oder zumindest sich sehr nahestehenden Ständen angehören. Nur unter extremen Umständen, wie z.B. unter dem, in dem die Marquise sich befindet – in einer unehelichen Schwangerschaft – wäre eine standesungemäße Heirat das kleinere Übel (S. 42 f.).
Die strengen Konventionen
In der Zeit, als die Marquise die Annonce aufgibt, fühlt sie sich persönlich schon unabhängig von ihren Eltern und hat, eventuell durch ihre Schwangerschaft, eine innere Stärke und Gewissheit erlangt, allein mit ihren Kindern gut auszukommen, und zwar fernab von gesellschaftlichen Vorgaben und in „klösterlicher Eingezogenheit“ (S. 28). Was ihre Ansichten ändert, sodass sie sich doch für die Heirat entscheidet, ist lediglich die Sorge um das Wohl ihres ungeborenen Kindes. Sie will nicht, dass ihm „ein Schandfle...