Rezension
Günter Grass bearbeitet in seiner Novelle „Im Krebsgang“ einen Stoff, dem eher selten Beachtung geschenkt wird: Den Untergang des „Kraft durch Freude“-Schiffs „Wilhelm Gustloff“ nach seiner Torpedierung im Jahre 1945. Bei der bis heute größten Schiffskatastrophe weltweit starben weitaus mehr Menschen als beim Untergang der Titanic. Die Opfer der sowjetischen U-Boot-Attacke waren Flüchtlinge, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht vor der Roten Armee von Danzig aus in Richtung Westen transportiert werden sollten.
Wie trauert man um Angehörige desjenigen Volkes, das selbst für den größten Genozid der Welt verantwortlich ist? Darf man als Deutscher nach dem Krieg überhaupt Trauer über deutsche Opfer empfinden? Oder sollte man die Augen vor einer Vergangenheit verschließen, deren Aufarbeitung einen in die Verzweiflung treiben kann? Von einem Tabubruch wurde gesprochen, als die Novelle 2002 erstmals erschien. Die Novelle wirft viele Fragen auf.
Die Geschichte verdrängen, das hat jedenfalls der Journalist Paul Pokriefke, der Icherzähler der Novelle, getan. Beim Untergang der Gustloff geboren, ist sein Leben untrennbar mit der Flüchtlingsgeschichte verbunden. Doch erst ungefähr fünfzig Jahre nach dem Untergang erklärt sich der Journalist dazu bereit, sich im Krebsgang langsam der Geschichte anzunähern und sie aufzuschreiben. Sein Auftraggeber, ein ehemaliger Dozent, kommt hier, getarnt mit dem Decknamen „der Alte“, als des Autors Alter Ego daher.
Die Geschichte eines jungen Neonazis namens Konny, der sich in den Tiefen des Internets unter dem Namen „Wilhelm“ eine Scheinexistenz konstruiert, schleicht sich langsam in die Novelle ein. Der 1936 ermordete Nationalsozialist Wilhelm Gustloff ist Konnys Idol und sein Mörder, der Jude David Frankfurter, sein Feindbild. Zwischen Konny und seinem Gegenspieler, dem Chatter „David“, entwickelt sich eine virtuelle Hassfreundschaft. Als der Erzähler endlich bemerkt, dass es sich bei dem Betreiber der rechtsradikalen Website „blutzeuge.de“ um seinen Sohn handelt, ist Konny längst zum Besessenen geworden.
Die vielen komplizierten Erzählstränge werden von Grass virtuos miteinander verbunden. Die Lektüre diese hochaktuellen Werks vermittelt historische Fakten und eine überaus schmerzvolle Erkenntnis: Totschweigen und Zensur bringen nichts Gutes. „Im Krebsgang“ ist eine düstere, hochspannende und sehr lehrreiche Novelle über die Vergangenheitsbewältigung, die neuen Gefahren des Rechtsradikalismus und die Herausforderungen der Identitätsfindung.