Tabubruch

Die vergessene Geschichte

Ursprünglich ist das für nur ca. 1200 Passagiere ausgelegte Schiff der „Kraft durch Freude“-Organisation, die Wilhelm Gustloff, ein Kreuzfahrtdampfer. Im Zweiten Weltkrieg dient es als Lazarettschiff. Am 30. Januar 1945 ist das Schiff mit ca. 10.000 Menschen, von denen ungefähr 9000 ostpreußische Flüchtlinge sind, völlig überladen. Es soll diese von Danzig nach Deutschland evakuieren. Es wird noch am gleichen Abend von einem sowjetischen U-Boot torpediert und versinkt in der Ostsee.

Der Untergang der Wilhelm Gustloff ist ein Ereignis mit starkem symbolischen Charakter für das große Leiden der durch die Rote Armee Vertriebenen aus den östlichen preußischen Gebieten. Die meisten der ungefähr 9000 Todesopfer der Katastrophe waren Frauen und Kinder. Schon dieser Umstand wird auch in Grass‘ Novelle angesprochen: „Sicher ist, daß (sic) überwiegend Frauen und Kinder den Tod fanden; in peinlich deutlicher Mehrheit wurden Männer gerettet, so alle vier Kapitäne des Schiffes“ (S. 152).

Die Trauer nach der Schiffskatastrophe ist ein Thema, mit dem sich in Deutschland viele schwer tun. Im Hinblick auf die grausamen Verbrechen, die unter Hitlers NS-Regime der Menschheit zugefügt wurden, wirken die Leiden des eigenen Volkes zu gering, um überhaupt erwähnt zu werden. Angesichts der Misshandlung und Vernichtung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern, dazu gehörend die Schoah mit 6 Millionen Todesopfern, und den unzähligen Kriegsopfern erscheinen ca. 9000 Tote durch eine Schiffsversenkung wie eine geringe Zahl.

Das Schicksal der Flüchtlinge und die Massenvertreibungen interessieren in der Nachkriegszeit nur wenige Menschen. Der Grund dafür war wohl hauptsächlich die Scham darüber, dass das eigene Volk die Schuld an dieser unmenschlichen, monströsen und unfassbaren Katastrophe des Völkermordes und des Zweiten Weltkriegs trägt, aber auch die Tatsache, dass es die Menschen mit dem Wiederaufbau eilig haben. Die Städte liegen noch in Trümmern. Die Infrastruktur ist weitgehend zerstört. Es herrscht Wohnungs- und Nahrungsmangel, bestimmte Lebensmittel sind nur mit Bezugsscheinen zu erhalten. Später sorgt das "Wirtschaftswunder" in der neuen BDR für ein schnelles Wachstum. Vollbeschäftigung, Konsum und Wohlstand lassen die Menschen von einem neuen guten Leben träumen: Die Kriegszeit rückt in den Hintergrund.

Fast sechzig Jahren später wird die Novelle „Im Krebsgang“ in einigen Medien[1] so präsentiert, als habe Günter Grass damit ein Tabu gebrochen. Er lässt in dem Buch den Icherzähler sagen: „Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen“ (S. 31)....

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