Schuldfrage
Warum erst jetzt?
„Warum erst jetzt?“ (S. 7), das ist der erste Satz der Novelle, die erste Frage, die dem Erzähler Paul gestellt wird. Es ist der Alte, sein früherer Dozent, der ihm diese Frage stellt. Er hat Paul Pokriefke damit beauftragt, die Geschichte der Gustloff an seiner Stelle aufzuschreiben. Nun bohrt er nach, warum Paul seine eigene Geschichte erst heute, im Alter von über fünfzig Jahren, erzählt.
Für Paul bedeutet die Beschäftigung mit den alten Zeiten eine Last und er sieht sie so, wie sie wahrscheinlich von vielen Deutschen aus der Nachkriegsgeneration betrachtet wird. Mit der Trauerarbeit hat der Journalist Paul sich von Berufs wegen beschäftigt. Paul kann sich zwar kritisch zur kollektiven Schuld des eigenen Volkes äußern, aber es ist für ihn schwierig, sein Augenmerk auf die eigene Lebensgeschichte zu richten. Vor seiner persönlichen Geschichte verschließt er die Augen, bis er zufällig im Internet neue Auskünfte erhält: „Doch ich hielt weiterhin unter Verschluß (sic). Ließ mich nicht nötigen. All die Jahre lang, in denen ich freiberuflich […] auch Bekenntnishaftes zum Thema »Nie wieder Auschwitz« geliefert habe, gelang es mir, die Umstände meiner Geburt auszusparen, bis ich Ende Januar sechsundneunzig zuerst die rechtsradikale Stormfront-Homepage angeklickt hatte, bald auf einige Gustloff-Bezüglichkeiten stieß und dann auf der Website »www.blutzeuge.de« mit der Kameradschaft Schwerin vertraut wurde“ (S. 32).
Hinter der Figur des „Alten“ steht Grass selbst, der seinen Icherzähler Paul Pokriefke dazu veranlasst, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Er schafft dies, indem er beharrlich den Erzähler mit Fragen konfrontiert, mit der Forderung nach Erinnerungen (S. 54), teilweise sogar mit Schuldzuweisungen (S. 151). Und es funktioniert schließlich, denn Paul äußert sich dahin gehend: „Aber auch ich blieb stumm, hielt zurück, sparte mich aus, mußte (sic) unter Druck gesetzt werden“ (S. 62).
Paul beschäftigt sich zwar kritisch mit der NS-Vergangenheit der Deutschen, aber er hält sein eigenes Schicksal lieber unter Verschluss. Dadurch weist die Novelle autobiografische Züge des Autors auf. Günter Grass war in den Nachkriegsjahren einer derjenigen, die zur Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs einen wichtigen Beitrag geleistet haben, z. B. durch die Veröffentlichung seines Romans „Die Blechtrommel“. Grass war selbst in einer Naziorganisation involviert. Kurz vor der Veröffentlichung seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) gab er zu, in der Waffen-SS tätig gewesen zu sein. Auch bei dieser Gelegenheit fragten sich sicher viele Leute: „Warum erst jetzt?“
Die Frage nach dem Grund für Pauls lange Wartezeit könnte vielleicht so beantwortet werden: Das Gedächtnis besitzt für diese Fälle einen ausgeprägten und sehr wirksamen Verdrängungsmechanismus. Die ...