Erinnerung und Identität

Tullas lebendige Erinnerungen

In der Novelle „Im Krebsgang“ erzählt Paul Pokriefke von der Geschichte der Versenkung des „Kraft durch Freude“-Passagierschiffs „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945. Das klassenlose Schiff trägt den Namen eines Nationalsozialisten, der 1936 von dem jüdischen Studenten David Frankfurter erschossen wurde. Tulla Pokriefke, die Mutter des Erzählers, überlebt als Siebzehnjährige den Untergang des Schiffs. Sie ist eine der Flüchtlinge, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee vertrieben werden und von Danzig aus in Richtung Westen gebracht werden sollen.

Tulla Pokriefke hat dieses Erlebnis nie vergessen können, und, was besonders auffällt, ist die Tatsache, dass sie es auch nicht vergessen will: „Ech leb nur noch dafier, daß main Sohn aines Tages mecht Zugnis ablegen“ (S.19). Auch als Siebzigjährige erzählt sie immer wieder die Geschichte des Schiffuntergangs und geht ihrem Sohn damit gehörig auf die Nerven. Er nennt sie eine „Ewiggestrige“ (S. 50).

Tulla denkt mit positiven Assoziationen an die Zeit des NS-Regimes zurück und sie ist ihr Leben lang politisch und ideologisch völlig desorientiert. Sie vermischt Stalinismus mit Katholizismus (S. 212) und bezeichnet einen Juden als „Itzig“, ohne sich der rassistischen Färbung ihrer Äußerungen bewusst zu sein (S. 106).

Tulla verhält sich unkritisch gegenüber der Zeit des „Dritten Reichs“. Sie erinnert sich an die Propaganda-Organisation „Kraft durch Freude“ als eine Gemeinschaft, die es ihren wirtschaftlich eher bescheiden lebenden Eltern ermöglichte, an Kreuzfahrten zu teilzunehmen. Die Wilhelm Gustloff war in ihren Augen „aijentlich ain scheenes Schiff« (S. 57). Das Ziel der Gleichschaltung und politischen Manipulation, welches die nationalsozialistische Organisation „Kraft durch Freude“ verfolgte, ist ihr nicht bewusst. Über die Gräueltaten der Nationalsozialisten spricht sie auch nie.

Das Einzige, was Tulla wichtig ist, ist, dass ihr Sohn „aines Tages mecht Zeugnis ablegen“ (S. 19). Er, der genau in dem Augenblick geboren wird, als Tulla den Untergang der Gustloff von einem Rettungsboot aus mit ansehen muss, hat ihrer Ansicht nach die Pflicht, die Geschichte der Gustloff in der Welt zu verbreiten: „Biste ons schuldig als glicklich leberlebender“ (S. 31).

Tullas Gedächtnis ist angefüllt mit den Eindrücken, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gesammelt hat. Sie ist „innen und außen von Erinnerungen beklebt“ (S. 207), wie ihr Sohn es formuliert.

Die schrecklichen Bilder, die sie beim Schiffsuntergang mit ansehen musste, verfolgen sie zu jeder Zeit: „Kann man nich vergässen, sowas. Das heert nie auf. Da träum ech nich nur von, wie, als Schluß (sic) war, ain ainziger Schrei ieberm Wasser losjing. Ond all die Kinderchen zwischen die Eisschollen …“ (S. 57).

Nach der Schiffskatastrophe trägt sie ihr weißes Haar, das durch das traumatische Erlebnis auf einen Schlag seine Farbe verlor, „wie eine Trophäe“ und „sobald sie danach befragt wurde, kam etwas zur Sprache, das im Arbeiter- und Bauern-Staat kein zugelassenes Thema war: die Gustloff und ihr Untergang“ (S. 140). Über die Tragödie wird in der in der Nachkriegszeit und in der DDR kaum gesprochen. Tulla fühlt, dass ihr Erlebnis, die Torpedierung und der Untergang des Schiffs, einfach ignoriert werden. Sie kämpft dafür, anerkannt und gehört zu werden, macht auf oft unpassende oder unangenehme Art darauf aufmerksam und verbündet sich mit anderen, die nicht vergessen können. Als Deutschland wiedervereint ist, geht Tulla mit großer Freude zum Treffen der Überlebenden des Schiffsuntergangs, die sich alle zehn Jahre am Tag des Untergangs zusammenfinden (S. 91 f.).

Pauls Verdrängung

Ganz anders geht Tullas Sohn Paul mit dem Thema um. Er versucht, sein Leben lang so wenig wie möglich daran zu denken, mit welchem Ereignis seine Geburt verknüpft ist. Erst dann, als ihn ein ehemaliger Dozent, genannt „der Alte“, damit beauftragt, als Ghostwriter über diese Geschichte zu berichten, macht Paul sich an die Aufarbeitung. Doch Paul geht kaum in die Tiefe, wenn der Alte ihn nach seinen persönlichen Erinnerungen fragt: „Er sagt: »Die ersten Eindrücke sind für das weitere Leben bestimmend.« Ich sage: »Da gibt’s nichts zu erinnern. Als ich drei war, hatte sie gerade ihre Tischlerlehre abgeschlossen. Na schön, Hobelspäne und Holzklötze, die sie mir aus der Werkstatt mitbrachte, hab ich langgelockt und getürmt einstürzend vor Augen. Ich spielte mit Spänen und Klötzen. Und sonst? Mutter roch nach Knochenleim“ (S. 54).

Der Grund, warum Paul seine Geschichte und seine Vorgeschichte so gern vergessen möchte,...

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