Rezension
An einem völlig harmlosen, lauen Frühlingstag wird das Leben der vierzehnjährigen Janna-Berta Meinecke aus den Fugen gerissen: Im nahe gelegenen Kernkraftwerk Grafenrheinfeld kommt es zum Super-GAU, eine radioaktive Gewitterwolke bewegt sich unaufhaltsam auf Janna-Bertas Heimatort Schlitz zu. Ihre Eltern sind in Schweinfurt, dem Unglücksreaktor viel zu nahe, und Janna-Berta muss auf ihren kleinen Bruder Uli aufpassen. Bleiben oder fliehen? Die Anweisungen der Behörden widersprechen sich.
Von Anfang an versteht es Gudrun Pausewang in ihrem 1987 erschienenen Jugendroman Die Wolke meisterlich, aus den Augen eines pubertierenden Mädchens eine Welt zu beschreiben, die im Chaos versinkt. Alle unumstößlich geglaubten Regeln der Kindheit gelten nicht mehr, die Erwachsenen erweisen sich als gänzlich hilflos, Schutz ist nirgendwo zu finden, Trost rückt in weite Ferne.
Janna-Berta verliert nicht nur ihre nahen Verwandten und bei einem Autounfall auf der Flucht ihren kleinen Bruder Uli, wofür sie sich noch Monate später selbst die Schuld gibt. Auch die Menschen, mit denen sich Janna-Berta nach ihrer Ansteckung durch die Strahlenkrankheit anfreundet, sterben vor ihren Augen: ihre Bettnachbarin Ayse, der ehemals Klassenbeste Elmar.
Auf ihrer Suche nach einem neuen Zuhause eckt Janna-Berta immer wieder an und muss herbe Rückschläge einstecken: Im Notlazarett werden ihr vom Personal die familiären Todesfälle verheimlicht, bei ihrer kontrollversessenen Tante Helga in Hamburg lebt sie eingeengt und unsichtbar. Auf der anderen Seite muss sie mit den übermäßig bemitleidenden oder unverhohlen feindseligen Reaktionen derer leben lernen, die unversehrt geblieben sind und vom Elend der Opfer am liebsten nichts wissen wollen.
Erst, als Janna-Berta zu ihrer Tante Almut nach Schweinfurt flüchtet, lernt sie allmählich wieder, ihr Leben zu schätzen, und schöpft neue Hoffnung für die Zukunft: Sie gründet nicht nur mit Almut eine Patchworkfamilie und hilft ihr dabei, ein Zentrum für Strahlenopfer einzurichten, sondern überwindet auch ihre Schuld an Ulis Tod und kann sich am Ende sogar ihren ignoranten Großeltern väterlicherseits stellen, welche die gesamte Katastrophe verharmlosen wollen.
So drastisch geht es zu in Pausewangs Buch, und das mit Bedacht: Sie will ihre jungen Leser nicht nur emotional berühren, sondern regelrecht durchschütteln. Mit unverblümter Sprache und schmerzhaft genauen Schilderungen ist der Text gerade für Heranwachsende eine Struktur mit Ecken und Kanten, an denen sie sich reiben können: Sind sie für oder gegen die Kernenergie? Ist die Welt auch für sie in „richtig“ und „falsch“ unterteilt, wie Die Wolke es suggeriert?
Hier liegt die Stärke von Pausewangs Text: nicht etwa darin, dass er für sich beanspruchen könnte, die reine Wahrheit zu einem solch komplexen Thema wie der Nutzung von Kernenergie zu sagen, sondern dass er gleichzeitig austeilt und seinerseits Angriffsfläche bietet. Denn Die Wolke hat einen klaren Standpunkt und vertritt diesen auch vehement. Doch nicht jeder, der diesen Roman liest, wird seiner Aussage heutzutage so unverblümt zustimmen wie in den späten 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, kurz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl.
Das Thema bleibt in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, vor allem nach dem neuerlichen Kernkraftwerksunglück im japanischen Fukushima im Jahr 2011. Wenn es einem Buch gelingt, dieses Gefühl von Lebenswichtigkeit, von einer Grundsatzentscheidungsfrage unserer Gesellschaft altersgerecht zu vermitteln, dann ist es Die Wolke. Und dafür wird es zu Recht gleichermaßen gehasst und geliebt.