„Dantons Tod“ als offenes Drama

Büchners Drama hat nicht nur eine Revolution zum Thema, sondern ist auch strukturell revolutionär, da es die Regeln der klassizistischen Tragödie sprengt, die in der Zeit des Absolutismus vorherrschten. Die offene Dramenform ist ein Bruch mit dem Überkommenen. Um dies besser verständlich zu machen, wird im Folgenden zunächst das Regelwerk des geschlossenen Dramas vorgestellt.   

Das klassische geschlossene Drama

Die literarische Epoche der französischen Klassik (1660 bis 1715) ist zeitlich identisch mit der Regierungszeit des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., des absolutistischen Herrschers par excellence. Er vollendete die Anstrengungen seiner Vorgänger, die gesamte Staatsgewalt in der Hand eines Alleinherrschers zu vereinen. Dieser Zentralisierungsprozess betraf nicht nur die Staatsorganisation, sondern auch die Künste und die Sprache. 1635 wurde die Académie Française gegründet, die seitdem an der Vereinheitlichung der französischen Sprache arbeitete und über die von ihr erarbeiteten Normen wachte.

Auch die zeitgenössische Theatertheorie war streng normativ: Die Dramentheoretiker beriefen sich zwar auf Aristoteles und die Dramen der Antike, doch spiegelten sich darin vor allem die Tendenzen der Zeit wider: Zentralisierung, Vereinheitlichung und strenge Hierarchie.

Für das klassische geschlossene Drama gelten die drei aristotelischen Einheiten:

  • Einheit der Zeit (ca. 24 – 48 Stunden),
  • Einheit des Ortes (kein Kulissenwechsel)
  • Einheit der Handlung (keine Nebenhandlung)

Darüber hinaus dürfen nach der sogenannten Ständeklausel in einer Tragödie nur sozial hochstehende Personen agieren, da nur sie dazu in der Lage sind, bedeutende Handlungen durchzuführen und Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen zu fällen. Außerdem besitzen nur sie die für die Tragödie notwendige Fallhöhe. Weiterhin gilt, dass die Tragödie in einem einheitlich hohen Redestil verfasst sein muss und alle Charaktere das Gebot der bienséance (Sittlichkeit, Wohlanständigkeit) einhalten. Alles Unanständige ist von der Bühne verbannt.

Die offene Dramaform

Im Gegensatz zu Frankreich, wo das geschlossene Drama seine klassizistische Form erhielt,  wurden zum Beispiel in England oder in Spanien Theaterstücke verfasst, in denen verschiedene Handlungen parallel laufen, in denen Personen aller Stände auftreten, in denen häufige Ortswechsel zu verzeichnen sind und in denen sich die Handlung durchaus über Jahre hinweg erstrecken kann. Beispiele dafür sind die Werke von Shakespeare und Calderón.

Aufgrund der Verflechtung von Absolutismus und Klassizismus ist es kein Wunder, dass unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der neuen demokratischen Ideen auch das französische Regeltheater hinterfragt wurde, das in Deutschland besonders von Gottsched verfochten worden ist.

Die Generationen des Sturm und Drang (darunter der junge Goethe und der junge Schiller) und der Romantik verehrten Shakespeare und ließen die starren Dramenregeln hinter sich. Die Leidenschaft und das Seelenleben der Figuren nehmen einen wichtigen Platz in den Werken der Stürmer und Dränger ein, welche versuchen, Gefühl und Vernunft miteinander zu versöhnen.

Sie bevorzugen die offene Form des Dramas mit häufigen Ortwechseln, Zeitsprüngen, vielen Figuren aus mehreren Gesellschaftsschichten und einer expressiven und ausdrucksstarken Sprache. Georg Büchner schließt sich ihnen mit seinem künstlerisch revolutionären Revolutionsdrama Dantons Tod an.

In manchen Stücken kommen Stilmischungen zustande. Deshalb ist es schwierig, die Merkmale der offenen Form ganz genau zu präzisieren, aber zu den bedeutendsten Eigenschaften der offenen Form gehören:

  • verschiedene parallele Handlungen und die relative Autonomie der einzelnen Szenen
  • häufige Ortswechsel
  • viele Figuren und Auftreten von Personen aller Stände
  • ausgedehnter Zeitraum (die Handlung kann sich durchaus über Jahre erstrecken)
  • unterschiedliche Sprachebenen und Orientierung an der Alltagssprache

Bei der Gegenüberstellung der offenen und der geschlossenen Form wird Büchners bruchstückhafter Woyzeck gerne als Paradebeispiel für ein Drama der offenen Form präsentiert. Dabei wird aber die Tatsache vergessen, dass der ”Woyzeck” durch Büchners frühen Tod ein Fragment geblieben ist, der – davon darf man ausgehen - nicht in der Form vorliegt, die dem Autor als Endresultat vorschwebte.  Das ist bei Dantons Tod anders. Dieses Werk hat Büchner selbst als abgeschlossen erklärt und einem Verleger angeboten.

Merkmale des offenen Dramas im Werk

Aufbau und Spannungskurve

Dantons Tod ist ein Drama, das die Revolution dars...

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