Um das Stück „Die Jungfrau von Orleans“ analysieren zu können, müssen die zahlreichen Strukturen innerhalb des Werkes untersucht werden. Zunächst wird der Aufbau des Werkes beleuchtet, der zwar auf den ersten Blick der Struktur des klassischen Dramas folgt, auf den zweiten Blick jedoch eine ganz eigene besitzt. Die vorgezogene Katastrophe kennzeichnet nur eine der vielen Abweichungen. Der Erzählstil Schillers sowie die Sprache innerhalb des Stücks werden ebenfalls analysiert und mit anschaulichen und geeigneten Textbeispielen belegt. Es folgt eine Kritik der „Jungfrau von Orleans“, und zwar mit Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte des Werkes.
Zwei parallele Handlungsstränge
Innerhalb des vierten Aufzugs sind zwei parallel verlaufende Handlungsstränge zu registrieren, die sich bis in den letzten Aufzug hinziehen. Zum einen gewinnt der Leser stets einen Einblick in die persönliche Entwicklung Johannas. Zum anderen treibt der Autor das politische und militärische Geschehen voran. Der erste Strang verläuft dabei fallend, d.h. er entwickelt sich in Richtung einer Katastrophe. Diese Tatsache lässt sich vor allem aus dem Umstand schlussfolgern, dass die Jungfrau immer mehr unter ihren Schuldgefühlen und Selbstzweifeln leidet. Besonders beim Triumphzug vor der Königskathedrale in Reims wird Johannas prekäre seelische Verfassung deutlich. Sie ist so verzweifelt, dass sie sich sogar nach ihrem früheren einfachen Leben als Hirtin auf dem Land sehnt (V. 2854ff.). Kurz darauf wird sie von ihrem Vater öffentlich angeklagt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben. Dass sie diese Vorwürfe stumm hinnimmt, führt letztendlich dazu, dass sie verbannt wird (V. 3042ff.).
Somit erreicht das Leben Johannas seinen bis dato tiefsten Punkt. Sie schafft es nicht, ihre Schuldgefühle zu überwinden, und ihr Verhalten stößt bei sämtlichen Personen auf Unverständnis. Ihr Ruhm und die Anerkennung ihrer Leistungen seitens des Volkes sind zerstört. Sie ist am französischen Hof und in Frankreich in kürzester Zeit zu einem Fremdkörper geworden. Es kommt folglich zu einer Anhäufung von Enttäuschung und Verzweiflung. Gepaart mit der Ablehnung, die Johanna aufgrund ihres Schweigens bei der Krönungszeremonie erfährt, bilden diese Umstände die Katastrophe der Protagonistin in „Die Jungfrau von Orleans“.
Schiller nimmt sich auch an dieser Stelle wieder ein Stück dichterische Freiheit: Im klassischen Drama kommt es erst im fünften und letzten Akt zur Katastrophe. Jedoch wird dadurch auch gleichzeitig der eigentliche, dramatische Konflikt gelöst. In diesem Stück jedoch kommt es zwar bereits im vorletzten Aufzug zur Katastrophe, jedoch werden die Konflikte, die in Johannas Seele brodeln, zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelöst oder einer Lösung nähergebracht. Im Gegenteil: Die Lage scheint weitgehend aussichtslos.
Der zweite Handlungsstrang, also das politisch-militärische Geschehen, weist ebenfalls eine Abwärtstendenz auf. Die negativen Ereignisse in Johannas Privatleben üben auch Einfluss auf den kriegerischen Erfolg aus. Der französische Hof wendet sich von der Person ab, die in der Vergangenheit für einige Siege gesorgt und dem Heer aus seiner Schaffenskrise herausgeholfen hat. Es wird deutlich, dass dieses Zerwürfnis zu einem erneuten kriegerischen Misserfolg auf französischer Seite führen kann/ wird.
Retardierendes Moment
Im fünften Aufzug setzen sich – zumindest was Johanna betrifft – die Abwärtstendenzen weiter fort. Mittlerweile hat es sich bis in die ländlichen Gebiete Frankreichs herumgesprochen, dass sie angeklagt wurde, eine Hexe zu sein. Die Köhler, die ihr ursprünglich Asyl gewährten, flüchten erschrocken vor der Jungfrau. Sie gesteht Raimond, dass sie aufgrund ihres starken Gottvertrauens keinerlei Rechtfertigungen vorgebracht habe (V. 3182). Diese Tatsache bildet ein erneutes, stark retardierendes Moment. Mit der Gefangennahme der Ritterin durch Isabeaus Truppen bewegt sich die Abwärtsspirale weiter. Indes erfasst Johanna große Angst, dass sie Lionel bald wieder begegnen wird.