Merkmale des Volksmärchens und des Kunstmärchens im Werk

Kunstmärchen vs. Volksmärchen

Das Kunstmärchen übernimmt einerseits viele Elemente des klassischen Volksmärchens, grenzt sich andererseits jedoch von diesem ab. Beiden Gattungen gemeinsam sind vor allem die übernatürlichen Gegebenheiten und magischen Wesen sowie die Verwendung von Archetypen und Symbolen. Im Gegensatz zum anonym überlieferten Volksmärchen ist der Autor eines Kunstmärchens jedoch namentlich bekannt und gilt als Verfasser einer literarischen Neuschöpfung.

Das Kunstmärchen verfolgt jedoch anspruchsvollere literarische Ambitionen. Seine Sprache ist gehaltvoller und von höherem literarischem Niveau. Auch der Aufbau ist zumeist mehrdimensional und komplex, indem beispielsweise mehrere Handlungsstränge miteinander verknüpft werden oder die chronologische Erzählweise durchbrochen wird.

Nicht zuletzt sind die Figuren vielschichtiger als die Stereotype des Volksmärchens. Ihre Handlungen sind psychologisch motiviert und sie durchlaufen eine charakterliche Entwicklung. Vor allem widersprüchliche und zwiespältige Figuren sind interessant.

Kunstmärchen gehen über ein profanes Schwarz-Weiß-Schema hinaus und stellen nicht zwangsläufig Gut und Böse gegenüber. Entsprechend fehlt auch die einseitige Moral sowie das klassische Happy End. Ohne Botschaft sind diese Texte dennoch nicht, vielmehr verarbeiten sie gesellschaftliche oder politische Phänomene ihrer Zeit und schrecken dabei auch vor den Mitteln der Satire und Ironie nicht zurück.

Während Ort und Zeit im klassischen Volksmärchen zumeist unbestimmt sind, können diese im Kunstmärchen näher benannt werden (siehe auch dazu Textsorten „Märchen“).

Merkmale des Volksmärchens

Anfang und Ende

Fouqué selbst hat seine »Undine« sowohl als Erzählung als auch als Märchen bezeichnet. Märchenhafte Elemente lassen sich in der Tat zahlreich erkennen. So beinhaltet »Undine« Referenzen auf das klassische Volksmärchen, die zumeist jedoch weiterentwickelt werden.

Im Anfangssatz der Erzählung lassen sich gleich mehrere Andeutungen auf das klassische Volksmärchen ausmachen: „Es mögen wohl schon viele hundert Jahre her sein, da gab es einmal einen alten guten Fischer, der saß eines schönen Abends vor der Tür, und flickte seine Netze.“ (S. 7).

Die Handlung wird hier in ein entferntes Zeitalter („viele hundert Jahre her“), vermutlich das Mittelalter, gerückt. Eine genaue Zeitangabe fehlt jedoch. Die vage zeitliche Bestimmung wird durch Formulierungen, wie „es mögen“, „einmal“ oder „eines schönen Abends“, unterstützt.

Der letzte Satz der »Undine« funktioniert ganz ähnlich, indem er vage Zukunftsaussichten im Sinne des klassischen ‚Und wenn sie nicht gestorben sind…‘ formuliert. Auch hier sind konjunktivistische Formeln und ungenaue Zeitangaben zu finden: „Noch in späten Zeiten sollen die Bewohner des Dorfes die Quelle gezeigt, und fest die Meinung gehegt haben, dies sei die arme, verstoßene Undine […].“ (S. 99).

Namen der Figuren

Auffällig ist zudem die kollektive Namensbezeichnung des Fischers, welcher lediglich mit seinem Beruf betitelt wird. Derartig anonyme Figuren sind typisch für das Volksmärchen, wenngleich Fouqué seine Charaktere darüber hinaus vielschichtiger und komplexer darstellt. Während der Fischer und seine Frau, ebenso wie der Herzog und die Herzogin, die gesamte Erzählung über namenlos bleiben, sind die übrigen Charaktere namentlich gekennzeichnet. Dennoch werden insbesondere Huldbrand und Heilmann häufig alternativ durch ihre Berufsbezeichnungen (Ritter und Priester) benannt.

Sprache

Wenngleich Fouqués Sprache weitaus bildgewaltiger und variantenreicher als im Volksmärchen daherkommt, verbergen sich einige typisch märchenhafte Floskeln darin. Dies mag einer der Gründe dafür sein, weshalb das Werk mitunter als Trivialliteratur bezeichnet wurde (vgl. Abschnitt „Rezeption, Kritik“). Ein Beispiel dafür ist die Verwendung undifferenzierter und stereotyper Adjektive, mit denen die Figuren beschrieben werden. So wird der Fischer im zitierten Eingangssatz als „alt“ und „gut“ bezeichnet. Auffällig ist auch der häufige Gebrauch des Adjektivs „hold“, welches insbesondere an den typischen ‚Mittelalterjargon‘ des Volksmärchens erinnert.

Orte und Symbole

Nicht zuletzt finden sich in Undine einige klassische Märchenorte, wie der finstere Wald oder die prunkvolle Ritterburg, wieder. Auch der Brunnen taucht als Schwellenmotiv in zahlreichen Volksmärchen auf. Ähnliches gilt für symbolträchtige Farben oder Zahlen, die ebenfalls Eingang in Fouqués »Undine« finden. Gold, Blau und Weiß werden wohl am häufigsten erwähnt (vgl. Charakterisierung Huldbrand u. Kühleborn). Dazu kommt das Märchenmotiv der magischen Zahl 3, die sich beispielsweise in Undines dreischrittiger Entwicklung oder in der Dreiecksbeziehung zwischen Undine, Huldbrand und Bertalda wiederfindet.

Merkmale des Kunstmärchens

Autor, Erzähler

Anders als beim anonym überlieferten Volksmärchen handelt es sich bei »Undine« um die literarische Neuschöpfung eines namentlich bekannten Autors. Mehr noch: Es sind sogar autobiografische Anspielungen in dem Werk zu finden. Die für das Kunstmärchen entscheidende Autorenschaft wird somit noch stärker...

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