Rezension
Franz Kafkas „Der Prozess“ ist neben „Das Schloss“ und „Der Verschollene“ eines von drei erhaltenen Romanfragmenten. Trotz seiner unvollständigen Form birgt der Text durch seine breiten Auslegungsmöglichkeiten auch heute noch immense Sprengkraft.
„Der Prozess“ erzählt die Geschichte von Josef K., der am Morgen seines 30. Geburtstags unvermittelt verhaftet wird. Weder erfährt K. jemals den Grund für seine Verhaftung noch tritt er je vor seine Ankläger. Dennoch versucht der Protagonist, der Frage nach seiner Schuld und dem Wesen des Gerichts auf den Grund zu gehen. Zur Seite stehen Josef K. dabei hoch funktionalisierte Charaktere, von denen ein jeder eine konkrete Funktion im Romangefüge einnimmt. Dennoch ist K.s Unterfangen bis zu seiner Hinrichtung zum Scheitern verurteilt. Der Roman bewegt sich so auf verschiedenen Ebenen im Kreis. Innerhalb des dargestellten Jahres bis zu K.s. 31. Geburtstag werden die Fragen, die sowohl K. als auch der Leser hat, nicht beantwortet. Dementsprechend findet bis zum Ende keine Entwicklung statt.
Die Kreisstruktur des Romanfragments, die nie ausgesprochene Schuld K.s und die Anonymität des Gerichts bedingen, dass es eine große Vielfalt an Auslegungsmöglichkeiten gibt. Der Roman kann als eine Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit der umfassenden Rechtfertigung eines Menschenlebens verstanden werden. Daneben kann das Werk auch als eine Metapher auf die grundlegende Schuld interpretiert werden, die der Mensch im religiösen Sinne auf sich geladen hat, z.B. durch die Erbsünde. Außerdem kann „Der Prozess“ als die persönliche Auseinandersetzung Kafkas mit seinen Schuldgefühlen gegenüber seinem übermächtigen Vater Herrmann Kafka charakterisiert werden. Besondere Brisanz erhält der Roman als gesellschaftskritische Schrift, denn der „Prozess“ kann auch als Vorahnung in Bezug auf die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts verstanden werden, in denen die Integrität des Individuums existenziell bedroht ist.
„Der Prozess“ ist trotz seiner Uneindeutigkeit ein äußerst wertvolles Werk, denn er spiegelt die Entwicklung des Menschen seit dem 18. Jahrhundert wider. Die Welt ist seit der Aufklärung und aufgrund der rasanten Entwicklung in Politik, Technik und Gesellschaft für den Einzelnen nicht mehr zu überblicken. Mit der Entwicklung der großen modernen Gesellschaften ist der Mensch einer überbordenden Bürokratie ausgesetzt, die ihn in Anonymität versinken lässt. Kafkas Roman verkörpert eine Parabel auf die Hilflosigkeit des Menschen angesichts einer von Institutionen beherrschten Welt. Kafka vermochte es, die gesellschaftlichen Missstände und Ängste der Menschen einzufangen, die auch noch heute, über hundert Jahre nach Entstehung des Werkes, hochaktuell sind.