Realität und Fantasie
Alltags- und Fantasiewelt
Hoffmanns Erzähler will den Leser davon überzeugen, dass „nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben“ (S. 19). Die Verflechtung von Alltäglichem und Wunderbarem zeigt sich bereits in Nathanaels erstem Brief. So berichtet der Protagonist von einem vermeintlich gewöhnlichen Ereignis: „[…] besteht in nichts anderm, als dass vor einigen Tagen, nämlich am 30. Oktober mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot.“ (S. 3). Außergewöhnlich ist jedoch die Einordnung dieses Geschehens durch Nathanael, der im gleichen Atemzug von etwas „Entsetzliche[m]“ sowie einem „grässlichen [ihm] drohenden Geschick“ spricht (ebd.). Mit der genauen Zeitangabe deutet Hoffmann an, dass das Unerklärliche und Unheimliche an jedem Tag und zu jeder Stunde ganz plötzlich in den Alltag eingreifen können.
Auch in Nathanaels Kindheit schleichen sich mit dem Advokaten Coppelius etwas Bedrohliches und Wunderliches ins Alltägliche hinein. Dieser unvermittelte Eingriff wiederholt sich auch bei Coppolas zweitem Besuch: „Eben schrieb er an Clara, als es leise an die Tür klopfte; sie öffnete sich auf seinen Zuruf und Coppolas widerwärtiges Gesicht sah hinein. Nathanael fühlte sich im Innersten erbeben.“ (S. 27)
Mit Nathanaels Behauptung, der Advokat sei der böse Sandmann aus dem Ammenmärchen und der Wetterglashändler sei Coppelius, greift nicht zuletzt etwas zutiefst Irrationales um sich. Die Gleichsetzung eines (bzw. zweier) Menschen mit einer Märchenfigur ist gewissermaßen das Leitmotiv für die Reziprozität von Lebenswirklichkeit und Magie: „Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage isst!“ (S. 7).
Der „im Innern zerrissene[n] Nathanael“ (S. 42) bewegt sich abwechselnd zwischen Realität und Fantasie. Die Gegenüberstellung dieser beiden Welten ist typisch für die Werke Hoffmanns, der seine Geschichten sowohl in der bürgerlichen Alltagswelt als auch in der märchenhaften Fantasiewelt ansiedelt. Einerseits bilden diese Sphären Gegensätze, die nebeneinander bzw. in Abgrenzung zueinander existieren. Andererseits durchdringen sie einander, ergänzen sich und stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Diese komplexe Art der Beziehung zwischen zwei Prinzipien wird mit dem Begriff Dualismus umschrieben.
Vexierbild
Der Dualismus im »Sandmann« kann mit einem sogenannten Vexierbild verglichen werden. Ein Vexierbild vermittelt durch seine spezielle Konstruktion und je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Bildinhalte. Häufig handelt es sich dabei um optische Täuschungen, Kipp-, Dreh- und Suchbilder oder sogenannte Anamorphosen.
Dem Hoffmann’schen Vexierbild liegt die Annahme zugrunde, dass die alltägliche und die übernatürliche Welt gleichwertig sind. Beide Sphären sind demnach Teile der Wirklic...