Das Unheimliche
Sigmund Freud: »Das Unheimliche« (1919)
In seinem 1919 erschienenen Aufsatz »Das Unheimliche« bezieht sich der berühmte Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856-1939) in weiten Teilen auf Hoffmanns »Sandmann«. Allem voran beschreibt er das Unheimliche als etwas, das auf „das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht“ (S. 232). Dabei bezieht er sich auf eine Definition Schellings, nach der das Unheimliche einem Geheimnis entspräche, welches eigentlich verborgen bleiben sollte, nun aber zutage getreten sei. Freud orientiert seine folgenden Definitionen des Unheimlichen an dieser zentralen Eingangsthese. Das „Längstvertraute“ präzisiert er später als etwas „wiederkehrendes Verdrängtes“ (S. 237).
Zunächst bringt Freud das Unheimliche mit dem Motiv des Sandmannes in Verbindung. Nathanaels Angst vor dem Verlust der Augen definiert er als Ersatz für die Kastrationsangst (zu Freuds Begründungen dieser These siehe Abschnitt „Psychoanalytische Deutung: Ödipuskomplex“). Darüber hinaus liefert der Psychoanalytiker mit dem Doppelgänger-Motiv ein weiteres Beispiel für das Unheimliche. Mit der Überwindung des Narzissmus werde der eigene Doppelgänger von der Garantie des ewigen Lebens „zum unheimlichen Vorboten des Todes“, so Freud (vgl. hierzu Abschnitt „Motive des Unheimlichen – Der unheimliche Doppelgänger“).
Vom Doppelgänger leitet Freud zum Phänomen der unbeabsichtigten Wiederholung über, welches er ebenfalls als eine Erscheinungsform des Unheimlichen beschreibt. Sofern sich Ereignisse und Wahrnehmungen in unserem Leben ungewöhnlich oft wiederholen – Freud nennt zahlreiche Beispiele, wie wiederkehrende Zahlen oder Orte – denken wir nicht mehr an Zufall, sondern glauben an ein verhängnisvolles Schicksal oder sogar eine Verschwörung. Obwohl die Parallelen zu Nathanaels Verfolgungswahn auf der Hand liegen, geht Freud hier nicht näher auf den »Sandmann« ein.
Von den vermeintlichen Zufällen kommt der Psychoanalytiker zum Glauben an die Allmacht der Gedanken. In diesem Zusammenhang berichtet er von Patienten mit Zwangsneurose, die behaupten, Vorahnungen zu besitzen, die sie mitunter als unheimlich empfinden. Am Beispiel der Angst vor dem bösen Blick beschreibt Freud das Phänomen der eingetroffenen Prophezeiung als Projektion der eigenen Emotionen.
Zur unheimlichen Allmacht der Gedanken gehört auch der sogenannte Animismus, der zumeist bei Kindern zwischen dem zweiten und siebten Lebensjahr zu verzeichnen ist. Der Terminus besagt, dass leblose Dinge (z.B. Puppen oder Kuscheltiere) mithilfe kindlicher Allmachtsfantasien zum Leben erweckt werden. Die Angst des Erwachsenen vor unerklärlichen Phänomenen rühre von den verdrängten Wurzeln des kindlichen Animismus her, so Freud.
Nicht zuletzt bringt der Psychologe die Rückkehr des Längstvertrauten bzw. Verdrängten mit der Angst vor dem Tod in Verbindung. Erscheinungen, die eine Wiederkehr der Toten suggerieren, seien besonders unheimlich. Sie mahnten uns an den primitiven Geisterglauben unserer Urahnen, den wir längst überwunden glaubten. Gespenster, Leichen, Skelette u.Ä. aber ließen das Verdrängte wieder hervortreten und lösten Zweifel an der Leblosigkeit bzw. Unmöglichkeit dieser Wesen aus.
Zum Schluss bemerkt Freud, dass übernatürliche Erscheinungen in der Literatur nur dann unheimlich erscheinen, wenn sie als eine mögliche Realitätsform dargestellt werden. Bei Hoffmanns »Sandmann« ist dies der Fall. Märchen, welche die Magie zur Grundlage jeglicher Deutung machen, erzeugten diesen Effekt des Unheimlichen jedoch nicht.
Ernst Jentsch: »Zur Psychologie des Unheimlichen« (1906)
Anfang des 20. Jahrhunderts setzt sich der deutsche Psychiater Ernst Jentsch (1867-1919) mit dem Motiv des Unheimlichen auseinander und bezieht sich dabei ebenfalls auf Hoffmanns Werke. Sein Aufsatz »Zur Psychologie des Unheimlichen« erscheint 1906, also 13 Jahre vor Freuds Analyse. Jentsch vertritt die The...