Die Rolle der Frau und Frauenbilder im Werk

Die zwei Frauentypen

Der zweiunddreißigjährige Germanist Fabian übt eine anziehende Wirkung auf Frauen aus und erlebt schon in jungen Jahren sexuelle Abenteuer. In Berlin findet er bei seinen abendlichen Streifzügen viele Möglichkeiten, Frauen kennenzulernen und sich sexuell auszuleben. Die verschiedenen Frauen, auf die Fabian in der erzählten Zeit des Romans trifft, verkörpern ganz unterschiedliche Lebensentwürfe, in denen sich die Umbrüche der Gesellschaft der Weimarer Republik deutlich widerspiegeln.

Kästner setzt sich in seinem Roman differenziert mit dem Frauenbild seiner Zeit auseinander. Auf der einen Seite stehen diejenigen Frauen, die ein selbstbestimmtes, individuelles und freies Leben führen möchten und ihre Sexualität frei ausleben. Auf der anderen Seite sind die Frauen positioniert, die ihre Selbstverwirklichung ihren Pflichten als Mütter und Ehefrauen unterordnen und zudem ihrer Sexualität unterordnen.

Die Auflösung der klassischen Rollenmuster findet sich vor allem bei den Frauen, die Fabian in Berlin trifft. Sie stehen in ihrem Verhalten und in ihrem Lebensentwurf denjenigen konträr gegenüber, die in Dresden leben.

Die neue Frau

Während des Ersten Weltkriegs nehmen die Frauen in den Fabriken die Plätze der eingezogenen Männer ein, was eine Veränderung ihrer Lebensbedingungen zur Folge hat. Während zu Anfang des 20. Jahrhunderts Frauen zumeist als Hausangestellte, Dienstmädchen oder landwirtschaftliche Arbeiterinnen tätig sind, verdoppelt sich zur Zeit der Weimarer Republik der Anteil an Angestellten und Beamtinnen in den Jahren nach dem Krieg. Mehrere Berufe werden fast ausschließlich von Frauen ausgeübt: „Er [Fabian] geriet mitten in eine Schar arbeitsloser Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen und Stenotypistinnen und erregte, als einziger männlicher Besucher, die größte Aufmerksamkeit.“ (S. 138).

Frauen können eine gleichwertige Arbeitsleistung erbringen und ein eigenes Einkommen verdienen. Besonders in den Städten entwickelt sich der neue Typus einer selbstständigen, unabhängigen und selbstbewussten Frau, der eine Wandlung des Frauenbildes in der Gesellschaft nach sich zieht und den Lebensstil junger Frauen stark beeinflusst. Daraus folgt ein freierer Umgang mit Sexualität, wobei die Auffassung vertreten wird, dass die weibliche Sexualität nicht länger ausschließlich mit Heirat und Reproduktion verknüpft ist und dass die Frauen ihre sexuellen Bedürfnisse und Erfahrungen auch vor der Eheschließung ausleben dürfen.

In Fabian verkörpert Cornelia den neuen Frauentypus der Weimarer Republik, der sich durch Emanzipation und Selbstständigkeit auszeichnet. Sie will nicht mehr die klassischen Rollenmuster erfüllen, sondern sich vor allem individuell und beruflich verwirklichen. Sie verfügt als Juristin über eine akademische Ausbildung. Das Thema ihrer Dissertation war internationales Filmrecht. Sie kommt nach Berlin, um dort eine Stelle in der Rechtsabteilung einer Filmgesellschaft anzutreten und will Karriere machen.

Als Fabian scherzhaft Cornelia vorschlägt: „Werden sie doch Filmschauspielerin!“, antwortet sie „‚Wenn es sein muss, auch das‘, sagte sie entschlossen.“ (S. 111). Sie wird tatsächlich Schauspielerin und Filmstar, weil dies ihr einen sozialen Aufstieg ermöglicht. Dafür muss sie allerdings einen hohen Preis und mit ihrem Körper bezahlen: Erstens opfert sie die Liebe zu Fabian und zweitens geht sie ein intimes Verhältnis mit dem Filmindustriellen Markart ein, das ihr sehr unangenehm ist.

Die Berliner Frauen

Frau Sommer

In der Berliner Gesellschaft scheint es keinen Platz für die Liebe zu geben. Schon zu Beginn der Handlung besucht Fabian den Klub von Frau Sommer, in dem für beide Geschlechter das gleiche Recht gilt. Diese leitet ihr Unternehmen selbst und unterhält eine Beziehung zu dem Liliputaner, der die Gäste empfängt und ihnen die Mäntel abnimmt (S. 15).

Fabian wird von Frau Sommer bei seinem Eintritt in das Etablissement, in dem sich Männer und Frauen näher kennenlernen können, darauf hingewiesen, dass der Aufbau einer Liebesbeziehung nur unnötige Komplikationen verursacht: „Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind.“ (S. 13).

Die erste Frau, die Fabian in dem Klub kennenlernt, hält nichts von einer dauerhaften Beziehung und der traditionellen Ehe. Sie erklärt: „Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als Ehemann vor.“ (S. 14).

Irene Moll

Die dominante Frau

Fabian lernt Irene Moll im Etablissement von Frau Sommer kennen und begleitet sie nach Hause. Dort stellt sich heraus, dass sie verheiratet ist und ihr Ehemann sich in einem Vertrag mit ihr das Recht hat zusichern lassen, all ihre Liebhaber zu begutachten und dann abzulehnen, wenn sie ihm nicht gefallen (S. 21-22).

Irene Moll und ihr Ehemann zeigen mit ihrem Verhalten, dass sie die klassischen Rollenmuster in der Familie getauscht haben. Der Ehemann bewahrt sich mit der Tatsache, dass er darüber entscheiden darf, ob ein Liebhaber mit seiner Frau schlafen darf oder nicht, einen letzten Rest Autorität. Die Ehe wird schon nach dem ersten Ehejahr auf einen förmlichen Kontrakt reduziert und spiegelt damit wider, dass dieses typische Beziehungsmodell in der übersexualisierten Gesellschaft der Großstadt, die bei Irene Alb- und Wunschträume verursacht, keinen Platz hat.

Die Tatsache, dass Irenes Ehemann Fabian deshalb beinahe bedrängt, mit Irene zu schlafen, weil er Angst vor der Wut seiner Frau hat, verdeutlicht, dass dies eine rein formale Sache ist. Er ist auch ihrer körperlichen Gewalt hilflos ausgeliefert und berichtet ihm davon, wie schmerzhaft er von ihr misshandelt wird (S. 23). Auch Fabian wird auf dem Weg zu ihrer Wohnung von Irene körperlich heftig angegangen und von ihr geboxt, ...

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