Verlust und Verdrängung

Das ungeheuerliche Geheimnis

In der Novelle Der Verlorene des Schriftstellers Hans-Ulrich Treichel schildert ein namenloser Ich-Erzähler das Schicksal seiner Familie in der Nachkriegszeit: Seine Eltern waren während ihrer Flucht aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten von russischen Soldaten mit dem Leben bedroht worden, weshalb die Mutter in Panik ihren erstgeborenen Sohn Arnold einer Fremden in die Arme gelegt hatte (S. 15). Seitdem wird Arnold vermisst und die Eltern haben, um ihn zu finden, den Suchdienst des Roten Kreuzes beauftragt. 

Die Eltern leiden sehr unter den traumatischen Erlebnissen, sind aber nicht dazu bereit, sich zu ihrer Vergangenheit zu äußern: „…, und beide schienen auch nicht besonders gewillt zu sein, über ihre Erfahrungen mit den Russen zu sprechen.“ (S. 109f.). Daher halten sie ihr wahres Schicksal zunächst auch vor ihrem jüngeren Sohn geheim, denn sie wollen den kleinen Jungen nicht mit ihren schrecklichen Erlebnissen belasten.

Während seiner Kindheitsjahre behauptet die Mutter ihrem Zweitgeborenen gegenüber, Arnold sei auf der Flucht aus dem Osten verhungert (S. 11). Als der Erzähler detailliertere Einzelheiten darüber erfahren möchte, verstummt die Mutter jedoch wieder und schweigt: „Auf meine Frage, ob denn niemand außer ihr Milch für das Kind gehabt habe, sagte die Mutter nichts, und auch alle meine anderen Fragen nach den näheren Umständen der Flucht und dem Verhungern meines Bruders Arnold beantwortete sie nicht.“ (S. 11).

Die unangenehme Wahrheit

Einige Jahre später ist die Mutter der Ansicht, dass der Ich-Erzähler jetzt „alt genug sei, um die Wahrheit zu erfahren.“ (S. 12). Sie offenbart ihrem inzwischen jugendlichen Sohn, Arnold sei gar „nicht verhungert, sondern abhanden gekommen, und es fiel der Mutter schwer, den Grund für Arnolds Verschwinden auch nur annähernd begreiflich zu machen.“ (S. 14).

Die Mutter schildert dem Erzähler zunächst, wie sie im Flüchtlingstreck von russischen Soldaten bedroht wurde und Arnold – um ihn zu schützen – einer Fremden in den Arm legte (S. 15). Über eine vermutlich anschließend stattgefundene Vergewaltigung kann die Mutter dann aber nicht mehr sprechen, stattdessen benutzt sie die Umschreibung „daß auf der Flucht vor dem Russen etwas Schreckliches passiert sei“ (S. 14). 

Rückblickend stellt die Mutter die panische Übergabe ihres ...

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