Realität und Fiktion
Die glaubwürdige Geschichte (Stimmen)
In der ersten Geschichte des Romans „Stimmen“ ist dem Protagonisten Ebling stellenweise sehr seltsam zumute. Als er die Anrufe für Ralf Tanner entgegennimmt, wird er in seinem normalen Alltag etwas aus der Bahn geworfen. Das geht so weit, dass seine eigene Frau ihm plötzlich fremd erscheint: „Als er in der Küche Elke begegnete, blieb er verwundert stehen. Für einen Moment war es ihm vorgekommen, als stamme sie aus einem anderen Dasein oder einem Traum, der mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hatte“ (S. 19 f.). Diese Eindrücke sind für Ebling jedoch nur vorübergehend. Sie werden dadurch hervorgerufen, dass seine Fantasie stark angeregt wird, weil er plötzlich mit vielen fremden, aufregenden Leuten in Kontakt kommt und sich recht stark in Ralfs Rolle hineinversetzt (siehe Abschnitt: Die Suche nach Ruhm / Der kurze Ruhm).
Im Vergleich zu einigen der anderen neun Geschichten, so wie „Rosalie geht sterben“ oder „Osten“, die entweder Märchen oder Alptraum darstellen, ist die Episode „Stimmen“ eine der glaubwürdigsten Episoden des Romans. Solch ein technischer Fehler eines Mobilfunkanbieters klingt sehr unwahrscheinlich, aber doch nicht unmöglich. Eblings psychologische Entwicklung in Bezug auf den Rollentausch mit Ralf könnte auch sicher wahr sein, ist aber selbstverständlich vom Autor erfunden.
Realität versus Fiktion (In Gefahr (1))
Leo Richter befasst sich als Schriftsteller mit den Grenzen und Übergängen zwischen Realität und Fiktion. Indem er Geschichten schreibt, schafft er alternative Welten, in denen fiktive Handlungsverläufe scheinbare „Wirklichkeit“ werden. Er sagt auch, dass er eigentlich „gar nichts sehen“ wolle, sondern er wolle nur erfinden, Geschichten schreiben, kreativ sein (S. 49).
Er ist etwas entfremdet von der Wirklichkeit. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er auch im richtigen Leben oft Assoziationen hat, die mit Fiktion zu tun haben. Als er mit Elisabeth am Flughafen wartet, macht er sie auf eine Reisegruppe aufmerksam: „Schau mal da drüben! Wenn das hier eine Geschichte wäre, würden wir zu dieser Gruppe gehören, und vor dem Abflug würde man uns vergessen“ (S. 26). Seltsamerweise ist dies eine ungefähre Vorausdeutung dessen, was später in der Geschichte „Osten“ seiner Kollegin Maria Rubinstein zustoßen wird.
Leos Freundin Elisabeth hat dagegen als Ärztin für „Ärzte ohne Grenzen“ reale menschliche Tragödien miterlebt, die sie in ihren Erinnerungen mit sich schleppt, doch von denen sie nichts erzählt: „Worte reichten nicht aus, um zu beschreiben, wie es wirklich war“ (S. 30). Sie hält die Realität und die Fiktion streng getrennt. Deswegen wünscht sie auch nicht, dass Leo sie in eine Geschichte hineinschreibt und sie zu einer literarischen Figur macht (S. 49).
Zwei fiktive Geschichten (Rosalie geht sterben)
Die Geschichte „Rosalie geht sterben“ verbindet die Ebenen der Realität und der Fiktion. Auf der Ebene der Realität steht der Autor Leo Richter, der die Geschichte über die alte Dame schreibt. A...