Identität und Rollentausch
- Eblings Exkursion in eine andere Existenz (Stimmen)
- Wirklichkeit und Virtualität (Rosalie geht sterben)
- Ralfs neue Identität (Der Ausweg)
- Marias verlorene Identität (Osten)
- Schein und Sein (Antwort an die Äbtissin)
- Mollwitz‘ virtuelle Selbstdarstellung und Identität (Ein Beitrag zur Debatte)
- Die doppelte Identität des Abteilungsleiters (Wie ich log und starb)
- Die Rivalin (In Gefahr (2))
Eblings Exkursion in eine andere Existenz (Stimmen)
Der Alltag des Computertechnikers Ebling ist durch Routine, Frustration und Langeweile geprägt. Er mag jedoch seine Arbeit, die darin besteht, defekte Computer zu reparieren (S. 9). Ihm gefällt, dass die Geräte „fragil”, „kompliziert und rätselhaft“ sind (S. 9) und dass sie undurchschaubar sind: „niemand konnte wirklich sagen, warum sie mit einemmal ausfielen oder sonderbare Dinge taten“ (S. 10).
Als er plötzlich zufällig die Telefonnummer eines gewissen Ralf zugewiesen bekommt, verändert das sehr vieles, denn plötzlich geschieht in Eblings Leben etwas Neues, Unerwartetes. Er kommt telefonisch in Kontakt mit vielen verschiedenen Gesprächspartnern, die mit diesem Ralf sprechen wollen (siehe Abschnitt: Moderne Kommunikationstechnologie / Erreichbarkeit).
Das virtuelle Rollenspiel übt eine große Faszination auf ihn auf und bewirkt bei ihm eine gewisse Erregung: „Eblings Herz klopfte, sein Hals war trocken. […] seine Hände waren zittrig, und in der Mittagspause hatte er keinen Hunger“ (S. 11). Ferner erwacht seine sexuelle Lust an seiner Frau wieder (S. 15). Durch seinen Rollentausch findet ein scheinbarer Identitätswechsel bei Ebling statt.
Der Computertechniker denkt viel daran, was dann sein könnte, wenn er in Wirklichkeit Ralf Tanners Leben führen würde: „ein elektrisches Kribbeln“ geht ihm durch den Körper, als er daran denkt, wie „ein Doppelgänger von ihm, ein Vertreter seiner selbst“, der viel Geld besitzt, gerade von einer schönen Frau umgarnt wird (S. 15). Jedenfalls gewinnt Ebling schnell das Gefühl, eine andere Identität übernehme einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit: „Er hätte gerne mehr über Ralfs Leben gewusst, schließlich war es zu einem kleinen Teil nun auch seins“ (S. 16 f.).
Nach einer Weile zweifelt Ebling sogar an Ralfs Existenz und „dachte darüber nach, ob es diesen Ralf wirklich gab“ (S. 17). Er ist kurz davor, seine Identität mit der des fremden Mannes, für den so viele Leute auf Eblings Telefon anrufen, zu verwechseln, zu vergessen, dass Ralf ein anderer und nicht er selbst ist.
Bemerkenswert ist es, dass Ebling in seiner neuen Rolle als Ralf seine alten Eigenschaften bewahrt: Er kann sich wie früher nicht in die Gedanken anderer Menschen hineinversetzen. Als zum Beispiel einer von Ralfs Freunden Selbstmord begehen will und Ralf zuvor anruft, ermutigt ihn Ebling verantwortungslos durch provokative Äußerungen, diesen Selbstmord doch endlich in die Tat umzusetzen: „Ja, nur zu“, ermutigt er den Mann, der androht, eine ganze Schachtel Tabletten zu schlucken (S. 21).
Es scheint ihm auch Spaß zu machen, die Frauen weinen zu lassen, jedoch ohne zu versuchen, sie zu trösten oder ihnen die Situation zu erklären. Beispielsweise ist die verzweifelte Carla, welche mit Ralf eine Verabredung getroffen hat, wütend und weint deshalb, weil sie versetzt worden ist. Am anderen Ende der Leitung lehnt sich dann Ebling sadistisch „lächelnd an die Seitenwand des IKEA-Schranks“ (S. 19).
Die Entfremdung, welche Ebling auch in seinem alltäglichen Leben verspürt, prägt die Natur der Kommunikation mit seinen neuen Gesprächspartnern. Die Anrufe nutzt er nicht dazu, um Kontakte zu schließen, sondern nur dazu, um Anerkennung zu erhalten, und zuletzt, um ein narzisstisches Bild von sich selbst zu pflegen. Als plötzlich die Leute aufhören, ihn anzurufen, fällt er frustriert in seinen alten Trott zurück (S. 21 f.).
Wirklichkeit und Virtualität (Rosalie geht sterben)
Rosalie ist eine von dem Autor Leo Richter kreierte literarische Figur. Er präsentiert sie als eine frische Rentnerin, die sich sehr darüber wundert, was aus ihr und ihren Freundinnen im Alter geworden ist. Sie hatte die Vorstellung, sie würde im Alter „anders sein” (S. 57). Doch nun sieht sie sich und ihre Freundinnen im Spiegel in einem Café und fragt sich: „Sind das wirklich wir? Diese Hütchen, Krokotaschen und wunderlich geschminkten Gesichter, diese gezierten Handbewegungen und lächerlichen Kleider? Wie ist das passiert?” (S. 57). Sie befindet sich in einer Phase des Lebens, in der sie ihre Rolle bezweifelt und sich Fragen stellt.
Leo Richter beschreibt Rosalie als unheilbar an Krebs erkrankt. Sie findet sich zunächst mutig damit ab und vereinbart einen Termin mit einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz. Doch später, als sie sich bereits auf der Reise befindet, bedauert sie ihren Entschluss und sie versucht, ihren Schöpfer, den Autor Leo Richter, davon zu überzeugen, sie weiterleben zu lassen.
Der Autor versucht, ihr klarzumachen: „du bestehst aus Wörtern, aus vagen Bildern und ein paar simplen Gedanken (...). Du meinst, daß du leidest. Aber da ist kein Leidender, da ist niemand!“ (S. 72). Rosalie lässt sich aber nichts sagen und bittet Leo sieben Mal nacheinander, wie in einem Märchen, um ihr Leben. Ihr Plan gelingt: Der Schriftsteller verwandelt sie schließlich in eine junge Frau (S. 75 ff.). Wie ein Avatar in einem virtuellen Spiel erlangt sie nun ein ganz neues Leben.
Ralfs neue Identität (Der Ausweg)
Ralf Tanners Geschichte beginnt damit, dass er sich „selbst unwirklich” wird (S. 79). Den berühmten Schauspieler beschleicht nach den vielen Jahren in der Filmbranche das Gefühl, als ob nur noch ein kleiner Teil von ihm selbst übrig ist. Das könnte ein Zeichen für starke Überarbeitung sein. Er fragt sich, ob jedes Mal, wenn er gefilmt wird, „ein anderer entstand, eine nicht ganz gelungene Kopie, die einen aus sich selbst verdräng...