Buchrezension
Es geht um zwei große Forscher der Weltgeschichte, es geht um die Heimat und die große weite Welt, um das Suchen und Forschen, um zwei grundverschiedene Lebensläufe: Während sich Baron Alexander von Humboldt als Adelsspross in Lateinamerika durch den Urwald schlägt, studiert der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Carl Friedrich Gauß daheim in Deutschland mithilfe eines herzöglichen Stipendiums Mathematik. Humboldt klettert in Höhlen und Vulkane, besteigt Berge, sammelt alle Tiere, die nicht schnell genug vor ihm davonlaufen, zählt die Läuse in den Haaren der Eingeborenen. Er begründet die moderne Naturforschung und revolutioniert sowohl die Empirie als auch die Kartografie. Gauß hingegen heiratet, bekommt Kinder, stellt eine mathematische Grundregel nach der anderen auf, wird Landvermesser, Astronom, Sternwartedirektor – und bleibt sich und seiner Welt trotzdem immer fremd. Seine Mitmenschen sind für seinen Intellekt zu langsam, seine Familie irritiert ihn, vor allem mit seinem Sohn Eugen kommt er einfach nicht zurecht.
Als alte Männer treffen diese beiden so unterschiedlichen Charaktere Gauß und Humboldt auf dem Naturforscherkongress in Berlin aufeinander. Was zunächst als Streit um die wahre Methodik der Wissenschaft beginnt, entwickelt sich in der Folge graduell zu einer Freundschaft, die beide noch einmal aufleben und ein letztes gemeinsames Experiment starten lässt. Doch allmählich werden sie von der Welt und der kommenden Generation überholt. Dass die Zeit nicht alle Wunden heilen kann, verdeutlicht das Ende des Romans, wenn der schicksalsgebeutelte Eugen erst durch die Verbannung nach Amerika, endlich dem Einfluss seines Vaters entzogen, aufleben kann.
Die Lektüre von Die Vermessung der Welt bereitet Freude. Daniel Kehlmanns Stil hat Witz und Ironie. Über den wunderbaren Kontrast eines magisch-realistisch angehauchten Südamerikas mit Humboldts übertriebener ‚Deutschheit‘ kann sich der Leser ebenso amüsieren, wie er sich dazu angehalten sieht, über die grundlegenden Fragen der Forschung nachzudenken: Bedeutet Wissenschaft, ins Feld zu ziehen, unermüdlich alles zu zählen und zu messen, bis man erschöpft zusammenbricht? Oder bedeutet Wissenschaft, fleißig am Schreibtisch zu arbeiten, zu rechnen, die Welt auszuschalten und unermüdliches Denken walten zu lassen? Und wie ist es eigentlich um all die Normalos bestellt, die, wie Eugen, nie wirklich aus dem Schatten ihrer übermächtigen Väter-Vorbilder heraustreten können?
Trotzdem fehlt etwas oder, besser gesagt, es fehlt nichts. Die Vermessung der Welt ist in sich geschlossen, stellt zwar all diese Fragen, macht es dem Leser aber am Ende dann doch zu einfach. Aha, sagt er sich, so ist das also. So war das mit Humboldt und Gauß und so lässt sich die Welt also vermessen. Bei all den guten Verkaufszahlen: Vermessen wäre es vor allem, den Roman als unvergleichliche Weltliteratur zu bezeichnen. Dies soll keinesfalls Daniel Kehlmanns Talent als gewitzter und abenteuerlustiger Autor herabwürdigen. Die wirklich interessante Diskussion um sein Buch entfaltet sich jedoch erst dann, wenn man es zur Seite legt und sich mit den wahren historischen Figuren auseinandersetzt.
Was macht Kehlmann da? Warum ist diese Art des Erzählens eventuell problematisch? Ist die Sprengung der Grenzen zwischen Wissenschaft und Literatur, die Kehlmanns ‚gebrochener Realismus‘ eindeutig vollführt, ein tragisches Missgeschick oder am Ende doch eine kalkulierte Provokation? Führt er dadurch seine Kritiker ad absurdum oder sogar sein eigenes Schreiben? Es gibt wenige zeitgenössische Romane, anhand derer sich dermaßen exzellent über den Unterschied zwischen Realität und Fiktion diskutieren lässt und darüber, welchen Einfluss das Geschichtenerzählen, welche Macht der Geschichtenerzähler im gesellschaftlichen Diskurs ausübt.