Liebe und Sexualität

Prostitution und Heirat

Die Vermessung der Welt geht mit Gauß‘ heterosexuellen Begierden sehr ungeniert um. Bereits zu den Zeiten seines Studiums „kannten ihn alle“ Prostituierten in Göttingen und „grüßten ihn mit Namen“ (S. 107). Doch hier ist es nicht der sexuelle Voyeurismus, der den Roman treibt, sondern die Möglichkeit zum Einblick in Gauß‘ Charakter, der sich auf diese Weise dem Leser bietet. Vor allem bei der Russin Nina, die ihn später im Leben „mit der Vertrautheit einer Ehefrau“ (S. 195) empfängt, fühlt er sich wohl. Schließlich bedeuten hier seine vermeintliche Zuneigung und seine leeren Versprechungen nichts: Er muss sich weder an das Versprechen halten, Nina „zu heiraten“, noch daran, „ihre Sprache zu lernen“ (S. 107). Hier kann er sich der Illusion hingeben, dass er, wie von seiner „unsagbar“ (S. 64) geliebten Mutter, bedingungslos so akzeptiert wird, wie er ist.

Seiner verschlossenen Art entsprechend ist der Weg zu seiner späteren Frau Johanna hingegen äußerst holprig. Als Gauß ihr den Hof macht, lehnt sie zunächst mit der treffsicheren Einschätzung ab, „daß er Leben und Kraft aus den Menschen seiner Umgebung ziehe“ (S. 115). Erst den zweiten Heiratsantrag nimmt sie an. Zwar nimmt Gauß sich zunächst vor, als Ehemann den Prostituierten zu entsagen, doch anscheinend kann er ohne diese Rückzugsmöglichkeit aus seinem Alltag nicht leben. Er besucht Nina weiterhin, schwört sich aber, dass Johanna davon „nie erfahren“ (S. 196) soll. Dass die Wissenschaft für Gauß trotz allem noch immer vor der Sexualität kommt, wird klar, als er die Hochzeitsnacht unterbricht, um eine Formel zu notieren, „es war zu wichtig, er durfte es nicht vergessen“ (S. 189). Die Geburt des ersten Sohnes verpasst Gauß (vgl. S. 195...