Gegensätze
Clairvoyance und Kunst
Wenn Gauß sich bei seinen späten Experimenten vorkommt „wie ein Magier der dunklen Zeit“ und „wie ein Alchemist auf einem alten Kupferstich“, dann muss er feststellen: „Die Scientia Nova war aus der Magie hervorgegangen, und etwas davon würde ihr immer anhaften.“ (S. 344). Zwar ist diese Feststellung etwas, das abermals auch den Gegensatz zwischen dem mystikaffinen Gauß und dem eher rational denkenden Humboldt betont, der selbst vermeintliche Geistererscheinungen noch mit Erklärungskonstruktionen zu begreifen versucht: „Er sei mit Geistern aufgewachsen und wisse, wie man sich ihnen gegenüber benehme“ (S. 328). Doch auch des Gegensatzes von Mystik und Naturwissenschaft selbst nimmt sich der Roman an, indem er immer wieder Elemente der Skurrilität und des Unerklärlichen einfließen lässt, die in der Kehlmann-Kritik als ‚Brombacher-Effekt‘ bekannt sind, so benannt nach dem Sachsen, den Humboldt und Bonpland völlig unerwartet mitten im Urwald treffen (vgl. S. 166 f.).
Ob nun Humboldt in einer Höhle seine Mutter erscheint, ob er auf seiner Flussfahrt eine fliegende „metallene Scheibe“ (S. 170) sichtet oder ob ein junges Medium im Zuge einer Berliner Geisterbeschwörung überraschenderweise exakt die Fragen der Anwesenden an die Verstorbenen zu beantworten weiß (vgl. S. 322), der Roman tut diese Geschehnisse weder als Aberglauben oder Halluzinationen ab, noch bescheinigt er ihnen volle Authentizität.
Immer sind Umstände im Spiel, die das Bewusstsein der Protagonisten beeinflussen, von der Einnahme des Giftes Curare über den Sauerstoffmangel bis hin zum Stress und zur Übermüdung. So stellt der Roman Übernatürliches und Wissenschaft nebeneinander, lässt beides koexistieren und fragt dadurch: Was ist Realität? Ist sie lediglich das, was Wissenschaftler durch Fakten und Zahlen zu fixieren vermögen? Oder umfasst Realität auch den wesentlich weniger greifbaren Horizont der individuellen menschlichen Wahrnehmung?
Auf ähnliche Art und Weise stellt Die Vermessung der Welt das Gegensatzpaar Wissenschaft und Kunst einander gegenüber: Wieder ist Goethes Gedicht Wandrers Nachtlied....