Historische Authentizität

Auffällig ist, dass sich Kehlmann, anders als viele seiner Autorenkollegen, die sich bezüglich der Interpretation ihrer Werke oft bedeckt halten und diese lieber ihren Lesern und Kritikern überlassen, in Interviews und seinen eigenen Schriften intensiv zu seinem Roman Die Vermessung der Welt äußert. Das Verfahren, mit dem er den Text verfasst hat, bezeichnet er in Anlehnung an den Magischen Realismus als ‚gebrochenen Realismus‘: Dabei komme es ihm weniger auf die Wiedergabe akkurater historischer Fakten an, sondern vielmehr auf das Füllen der Leerstellen durch erfundene Anekdoten, die wiederum zur Betonung der geschichtlichen Wahrheit dienen sollten. Mit diesem Verfahren orientiert sich Kehlmann nach eigener Aussage an den Klassikern der deutschen Literaturgeschichte, wie Goethes Egmont (1789), Schillers Die Jungfrau von Orléans (1801) oder Kleists Prinz Friedrich von Homburg (1821), die ebenfalls sehr frei mit ihren historischen Grundlagen umgehen.

Dabei legt Kehlmann auch die Quellen, aus denen er den historischen Stoff bezogen haben will, im Gegensatz zu anderen Schriftstellern nicht offen. Dadurch entwickelt sich ein offenbar gewolltes Verwirrspiel für den Rezipienten, der nun nicht mehr unterscheiden kann, welche Episoden aus dem Leben der beiden Protagonisten auf Fakten basiert und welche Ereignisse der Autor hinzugedichtet hat. Kehlmann begründet dies auch mit dem Fiktionsanspruch der Gattung Roman: Stehe ‚Roman‘ auf einem Buch, so gehe der Leser mit dem Erzähler eine Art Pakt ein. Dieser besage, dass der Leser zwar alles zur Kenntnis nehmen müsse, was gesagt wird, diesem Gesagten jedoch nicht immer Glauben schenken und es durchaus kritisch betrachten müsse.

Mit dieser Art der historischen Verzerrung spielt auf der inhaltlichen Ebene bereits eine frühe Szene des Romans, in der Alexander von Humboldt versucht, das Treffen zwischen sich und Carl Friedrich Gauß mittels des jungen Daguerreotypie-Verfahrens bildlich aufzuzeichnen. Dies scheitert jedoch sowohl an...

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