Bernhard Haber
Die fünf Stimmen der Erinnerung
Bernhard Haber ist die Hauptfigur des Romans Landnahme von Christoph Hein. Der Protagonist wird über einen Zeitraum von fast 50 Jahren aus der Sicht von fünf unterschiedlichen Ich-Erzählern geschildert, die jeweils einen bestimmten Lebensabschnitt mit ihm zusammen verbracht haben. Obwohl sich jeder Erzähler auf eine andere Phase in Bernhards Leben fokussiert, gibt es an manchen Punkten auch Überschneidungen und Berührungspunkte.
Bernhard selbst kommt nicht zu Wort, aus diesem Grund bleiben die Schilderungen der Hauptperson auch immer subjektiv. Durch die verschiedenartigen Beziehungen der fünf Berichterstatter zu Bernhard und weil sich zudem die menschlichen Erinnerungen in ihrer Wahrnehmung oft unterschiedlich gestalten, erhält der Leser an manchen Stellen auch widersprüchliche Aussagen, deren Wahrheitsgehalt nicht überprüft werden kann.
Kindheit und Jugend
Bernhards Familie
Da nach Ende des 2. Weltkriegs viele ehemals deutsche Gebiete, zu denen auch Breslau gehörte, Polen zugesprochen wurden, musste Bernhards Familie ihre alte Heimat verlassen und nach Deutschland übersiedeln. Die Familie besitzt keinen Kontakt zu anderen Verwandten, bei denen sie wohnen kann, daher werden Bernhard und seine Eltern der sächsischen Kleinstadt Guldenberg (DDR) zugewiesen (S. 23). Dort erhält die Familie zwei kleine Dachkammern „auf dem Hof von Bauer Griesel in der Gustav-Adolf-Straße“ (S. 22f.), in denen sie die ersten Jahre wohnt.
Bernhards Vater, der im Roman nur „der alte Haber“ (S. 22) genannt wird, ist von Beruf Tischler. Aufgrund eines Unfalls in russischer Kriegsgefangenschaft musste Haber der rechte Arm amputiert werden und er kann seinen Beruf nicht mehr richtig ausüben (S. 22). Daher ist Bernhards Vater in Guldenberg zunächst arbeitslos, macht sich jedoch später mit einer kleinen Tischlerei selbstständig (S. 25). Bernhards Mutter hilft bei der Hofarbeit und bekommt als Lohn dafür Lebensmittel (S. 24).
Bernhards Kindheit
Bernhard Haber wird im Jahr 1940 in Breslau/Schlesien geboren und kommt als 10-jähriger Junge mit seinen Eltern nach Guldenberg (S. 16,18). Er ist zur Zeit der Übersiedlung ein Einzelkind, denn sein Bruder ist vier Jahre vorher an Unterernährung gestorben (S. 23).
Da die Familie mittellos nach Guldenberg gekommen ist und auch später nur ein sehr geringes Einkommen besitzt, wächst Bernhard in Armut auf. Er besitzt keinen Schulranzen, sondern muss seine Hefte und Bücher in einem selbst genähten Stoffbeutel transportieren (S. 20f.). Im Winter sammelt er auf einem Rangierbahnhof mit den Händen Kohlenreste, füllt sie in alte Kartoffelsäcke und bringt diese mit einem Leiterwagen nach Hause, um sie zum Heizen zu verwenden (S. 71ff.). Auf diese Weise kümmert sich Bernhard mit um den Lebensunterhalt der Familie und hat schon früh Verantwortung zu tragen. Zudem muss er seinem invaliden Vater häufig in der Tischlerei zur Hand gehen, sodass ihm nur wenig Zeit für die schulischen Aufgaben bleibt (S. 26).
Der maulfaule Schüler
Bernhard ist ein ruhiger und zurückhaltender Schüler, der nur wenig spricht. Marion zum Beispiel beklagt sich über Bernhards Schweigsamkeit und beschreibt ihren Freund als „maulfaul“ (S. 83): „Bernhard hatte mit mir nie gesprochen, ein ganzes Jahr nicht,“ (S.85). Trotz seiner Sprachlosigkeit ist der Protagonist hingegen ein guter Zuhörer: „Zuhören konnte er gut, und er vergaß nie etwas.“ (S. 93).
Außerdem benötigt Bernhard viel Zeit, um den Lernstoff zu verstehen, besitzt dafür aber auch ein gutes Gedächtnis: „Er war nicht unbegabt, und was er einmal verstanden hatte, vergaß er nie, aber er war schwer von Begriff, wie wir sagten, saß minutenlang dumpf brütend über einer Aufgabe und schwitzte. Man kann ihm beim Denken zusehen, sagte Fräulein Nitzschke einmal.“ (S. 26).
Bernhard Haber ist insgesamt ein schlechter Schüler. Er muss die siebte Klasse wiederholen (S. 67) und kämpft ansonsten jedes Jahr darum, nicht sitzen zu bleiben (S. 83f.). Außerdem mangelt es Bernhard an Interesse an den verschiedenen Fächern, denn er arbeitet viel lieber körperlich: „Ich bin mehr für das Handfeste. Und arbeiten kann ich, da stecke ich alle in den Sack (…). Ich kann dir sagen, wenn es darum geht, Säcke zu schleppen oder einen Baum zu fällen oder einen Hund abzurichten oder was immer du willst, da würden alle Lehrer mit mir nicht mithalten können.“ (S. 87).
Selbstbewusstsein und Sinn für Gerechtigkeit
Bernhard lässt sich nichts gefallen und wehrt sich dann, wenn er sich zum Beispiel von Lehrern oder Mitschülern ungerecht behandelt fühlt (S. 31). Als der Mathematiklehrer Herr Voigt ihn an seinem ersten Schultag dazu zwingt, seine Geburtsstadt Breslau mit dem aktuellen polnischen Namen „Wroclaw“ zu bezeichnen, wiederholt der Junge zunächst folgsam die polnische Bezeichnung. Anschließend fügt er dann noch schnell hinzu: „Aber geboren wurde ich in Breslau.“ (S. 20) und beharrt somit auf seiner eigenen Sichtweise.
Eines Tages widersetzt sich Bernhard sogar dem Direktor der Schule, Herrn Engelmann: Nachdem sein Hund Tinz, den er von Bauer Griesel geschenkt bekommen hatte, von Unbekannten mit einer Drahtschlinge getötet worden ist (S. 58), schwört der Schüler wütend Rache und verkündet, er wolle den Mörder des Hundes ebenfalls umbringen (S. 59). Daraufhin kommt Herr Engelmann in Bernhards Klasse und verlangt von dem Schüler deshalb eine Entschuldigung, da er mit seiner Aussage seine Mitschüler bedroht habe: „Bernhard biss die Zähne zusammen und starrte unentwegt auf seine Schuhe. (…) Es schien ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, er wirkte überhaupt nicht nervös, eher unbeteiligt.“ (S. 63).
In diesem Zusammenhang zeigt sich auch Bernhards ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Nach seinem Empfinden hat er das Recht dazu, den Mörder seines Hundes ebenfalls zu töten. Dabei beruft sich Bernhard auf ein Bibelzitat, wonach ein zugefügter Schaden auf die gleiche Weise beglichen werden muss: „Auge um Auge, stieß er hervor, Drahtschlinge für Drahtschlinge.“ (S. 66).
Da Bernhard sich hinsichtlich der ausgestoßenen Drohung im Recht fühlt, kann ihm auch die Warnung des Direktors, die Polizei und Staatsanwaltschaft zu informieren, nicht sonderlich beeindrucken (S. 64). Als Herr Engelmann dann auch äußert, dass es Bernhard doch bestimmt leid tue, dass er den drohenden Satz gesagt habe, deutet der Schüler ein leichtes Nicken an und stellt dadurch den Direktor zufrieden (S. 65).
Thomas und seine Mitschüler sehen Bernhard als Sieger aus der Befragung hervorgehen: „Bernhard hatte vor der ganzen Klasse den Direktor besiegt, er hatte den Kampf gewonnen, und wir alle hatten es miterlebt. Trotzdem verzog Bernhard keine Miene, obwohl er eben sensationell gewonnen hatte. Er tat, als habe er mit alldem nichts zu tun.“ (S. 66).