Rezension

Christa Wolf hat in ihrem Roman „Medea. Stimmen“ den Medea-Mythos in ein neues Gewand gekleidet und so vollkommen neue Lesarten eröffnet. In dem Text tragen sechs Figuren elf Monologe vor. Immer wieder durch Retrospektiven unterbrochen, wird der Handlungsverlauf diskontinuierlich vorangetrieben. Christa Wolf versucht, einen äußerst differenzierten Blick auf die als Kindsmörderin verleumdete Medea zu werfen. Es liegt am Leser selbst, sich aus den verschiedenen, subjektiven Redeakten ein Bild dieser Frau zu machen. Die Wahrheit über Medea liegt zwischen den Monologen verborgen.

Aus sechs verschiedenen Perspektiven wird beleuchtet, was sich seit der Flucht Medeas aus Kolchis bis hin zu ihrer Verbannung aus Korinth ereignet: Wie Medea das Staatsgeheimnis um die getötete Tochter Kreons aufdeckt, wie sie in der Folge ein Opfer des intriganten Akamas wird und wie Medea der Mord an ihrem Bruder Absyrtos zugeschrieben und sie im Handlungsgang für verschiedene Krisen, von einem Erdbeben, über eine Hungersnot, eine Mondfinsternis, bis hin zum Ausbruch der Pest, verantwortlich gemacht wird. Schließlich repräsentiert Medea den Sündenbock für alles Negative in Korinth. Die Korinther jagen sie aus der Stadt und töten ihre Kinder an Medeas statt.

Christa Wolf revidiert das uralte Bild der rachsüchtigen Figur und entwickelt eine neue, selbstbestimmte Medea, die das Opfer einer neuen, von Männern dominierten Welt wird. Damit liegt eine Lesart des Textes offen, nämlich, „Medea. Stimmen“ im Kontext des Feminismus zu begreifen. Doch der Text vermag noch mehr auszusagen. Er demonstriert detailliert, wie Menschen in Gesellschaften ausgegrenzt werden, zu Sündenböcken gemacht werden und worin der Keim der Gewalt gegen Ausgegrenzte besteht.

Der Roman ist als eine Allegorie auf die DDR und die BRD zu verstehen. Die starke Opposition zwischen Kolchis und Korinth und die darin enthaltenen Anspielungen zeichnen den Roman als einen politischen Schlüsselroman Wolfs aus. Die Besonderheit des Textes liegt aber darin begründet, dass keine der erwähnten Lesarten den Text hinreichend zu verstehen vermag. Alle Ansätze erklären den Roman, scheitern aber doch daran, ihn in seiner Gänze und Tiefe zu erfassen.

Genauso wie der Leser die Wahrheit über die Figur Medea in der Polyfonie der Stimmen finden muss, genauso liegt die Wahrheit in Bezug auf die Bedeutung des Romans zwischen den einzelnen Interpretationsmöglichkeiten verborgen. Der Roman eröffnet verschiedene Lesartmöglichkeiten, nimmt sich aber rechtzeitig zurück, um seine Bedeutungsbreite nicht einzuschränken. Diese fein ausgearbeitete, wohldurchdachte Anlage des Romans beweist die Meisterhaftigkeit der Autorin Christa Wolf.