Ein politischer Roman

Autobiografische Bezüge

Besonders in den ersten Jahren nach der Veröffentlichung des Romans konzentriert sich die Kritik auf eine politische Interpretation. „Medea. Stimmen“ gilt in dieser Lesart als ein politischer Schlüsselroman. Christa Wolfs scheint die schwierige Beziehung zwischen der DDR und der BRD darzustellen: Kolchis würde dann für den Osten Deutschlands stehen, Korinth für den Westen.

Diese Art der Auslegung bietet sich umso mehr deshalb an, weil Christa Wolf selbst Medea, die Heldin des Romans, als „die Barbarin aus dem Osten“ (Roser, Birgit) bezeichnet. Die beiden Staaten entsprechen demnach auch geografisch der Lage der DDR und der BRD. Darüber hinaus weist die Autorin auch darauf hin, dass der Roman auch Erfahrungen aus der Gegenwart enthält. Somit liegt die politische Auslegung des Romans nicht nur nahe, sondern erscheint fast als zwingende Lesart.

Kolchis als Sozialstaat

Bei Kolchis, hinter der sich vermutlich die DDR verbirgt, handelt es sich um ein vergleichsweise bescheidenes Land, das seine Ideale der Gewaltfreiheit und der gleichmäßigen Besitzverteilung aufgegeben hat. Medea berichtet uns von den Zuständen in Kolchis, die einem Idealzustand gleichkommen, da der Mensch dort nur noch nach seinen charakterlichen Eigenschaften beurteilt wird und sein Besitz keine Rolle spielt:

„Wir in Kolchis waren beseelt von unseren uralten Legenden, in denen unser Land von gerechten Königinnen und Königen regiert wurde, bewohnt von Menschen, die in Eintracht miteinander lebten und unter denen der Besitz so gleichmäßig verteilt war, daß keiner den anderen beneidete oder ihm nach seinem Gut oder gar nach dem Leben trachtete.“ (S.93)

Die „Legenden“, die Medea hier oben erwähnt, sind wahrscheinlich in Bezug auf die Lehren und Ideen des Marxismus, die das ideologische Fundament der DDR bildeten, aber nur in Ansätzen in der Realität umgesetzt wurden, zu betrachten.

Kolchis war, ganz wie die DDR, zum Zeitpunkt von Medeas Flucht alles andere als ein lebenswerter Ort. Es herrschte ungebändigte Machtgier, personifiziert durch Aietes, Agameda und Presbon. Aietes ist ein alter, reformmüder Herrscher und kann somit mit Erich Honecker verglichen werden, dem letzten Generalsekretär der SED und somit mächtigster Politiker der DDR, der sich gegen jede Reformbewegung in der DDR sträubte.  Die Führungsschicht in der DDR hatte nur ein geringes Interesse an den Bedürfnissen der Bevölkerung. Ebenso ist man auch am Hofe Aietes’ in Kolchis nur an „unnütze[r] Prachtentfaltung“ (S.92) interessiert, während der Handel stagniert und die Bauern ein elendes Leben führen.

Zwar kommt es zu einer Revolte, aber diese scheitert, und somit ist Kolchis, genau wie die späte DDR, ein Staat, der sich im „Niedergang“ (ebd.) befindet. Medea flieht in Analogie zu der Flucht der unzufrie...

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