Mutterliebe
Brechts Neudefinition
Mutterliebe und Mutterschaft sind zentrale Motive im »kaukasischen Kreidekreis«. Brecht definiert diese jedoch auf seine ganz eigene Art und weicht damit entschieden von den literarischen Vorlagen ab.
Zwar hatten sich seine Vorgänger Li-Hsing-tao und Klabund ebenfalls mit der Kreidekreis-Probe auseinandergesetzt. Auch bei ihnen sollte die rechtmäßige Mutter die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu sich herüberzuziehen. Und auch bei ihnen ließ die eigentliche Mutter ihr Kind aus Fürsorge los. Bei Li-Hsing-tao und Klabund handelt es sich dabei jedoch stets um die leibliche Mutter. In beiden Quellen (und im Übrigen auch im Salomonischen Urteil, welches Brecht ebenfalls als Vorlage diente) vereinen sich Mutterliebe und biologische Mutterschaft demnach in ein und derselben Person (vgl. Kapitel „Epoche“, Abschnitt „Entstehung und Quellen“).
Brecht stellt dagegen die simple und selbstverständliche Lösung seiner Vorgänger infrage. Dass diejenige, die das Kind loslässt, aus Mutterliebe handelt, steht auch im »kaukasischen Kreidekreis« außer Frage. Auf eine biologische Verwandtschaft lässt ein solches Verhalten jedoch nicht automatisch schließen.
Im »kaukasischen Kreidekreis« hat die Ziehmutter Grusche Vachnadze eine größere emotionale Bindung zum Kind aufgebaut als die leibliche Mutter Natella Abaschwili. Mutterschaft entsteht bei Brecht durch soziales Verhalten: Während Frau Abaschwili ihr Kind deshalb zurücklässt, weil sie sich mehr um ihre teuren Kleider sorgt, nimmt sich Grusche des Säuglings an. Über drei Jahre hinweg kümmert sie sich um den fremden Jungen, dessen Leben sie über das eigene stellt und an dessen Erziehung sie maßgeblich beteiligt ist (vgl. Akte 2 bis 4).
Brecht erkennt, dass die Gesetze in der Feudalgesellschaft auf einen solchen Fall nicht vorbereitet sind, da sie sich nach wie vor auf die Blutsverwandtschaft stützen. Noch dazu scheinen die Reichen und Mächtigen in einem korrupten Rechtssystem bevorzugt zu werden. Ginge es nach diesen Voraussetzungen, so müsste die Gouverneursgattin Natella Abaschwili als eindeutige Gewinnerin aus dem Prozess um ihren leiblichen Sohn Michel hervorgehen. Die Küchenmagd Grusche Vachnadze hingegen, die sich zwar aufopferungsvoll um den Jungen gekümmert und ihn liebgewonnen hat, ginge dagegen leer aus.
Brecht aber, der die Klassentrennung und die scheinheilige Justiz kritisiert, lässt den Prozess in einer vorübergehenden Zeit der politischen Anarchie stattfinden. Nur so können die ungerechten Verhältnisse überwunden und die Mutterschaft neu definiert werden (vgl. Abschnitt „Gerechtigkeit“).
Die soziale Produktivität
Ein wesentliches Kriterium für Brechts Mutterschaftsdefinition ist die soziale Produktivität. Diese gründet auf einem Gesellschaftsbild, in dem die Mitglieder Verantwortung füreinander übernehmen und sich für den Erhalt der Gemeinschaft einsetzen. Im Idealfall sollen Besitzansprüche immer nur das Ergebnis der eigenen Produktivität und nicht durch gesellscha...